Statements2023 - DFW-Dachverband_Freier_Weltanschauungsgemeinschaften

Dachverband Freier
Weltanschauungsgemeinschaften
Direkt zum Seiteninhalt

Statements2023

Statements
Zur Notwendigkeit von Meinungsfreiheit
(Online DFW-Workshop, 16.9.23)
 
Seit dem Renaissancehumanismus und spätestens seit der europäischen Aufklärung steht der Begriff der Freiheit im Zentrum politischer, menschenrechtlicher und philosophischer Debatten. Schon John Locke (1632 – 1704) hat die These vertreten, dass eine Regierung nur dann legitim ist, wenn sie das Naturrecht auf Freiheit gewährt und schützt. Liberté, Égalité, Fraternité - unter dieser Losung stand dann das Epochenereignis, die Französische Revolution von 1789. „Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten“, so hat 1762 Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) den bürgerlichen Impetus gegen Absolutismus und Aristokratie und für die Republik formuliert.
 
Freiheit wurde in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zunehmend als Befreiung von den feudalen und klerikalen Verhältnissen des Ancien Règimes verstanden. Die Freiheitsrechte als angeborene Rechte des Menschen wurden gegen Absolutismus, gegen Vorurteile und Abhängigkeiten formuliert und sollen das freie Bewusstsein freier Menschen fördern und schützen. In der „Encyclopédie“, Band 9 (1765), finden wir deren naturrechtliche Bestimmung: „Dieses Recht gibt die Natur allen Menschen, damit sie über ihre Personen und ihre Güter in der Weise verfügen, die ihrem Urteil nach ihrem Glück am meisten angemessen ist – allerdings mit der Einschränkung, daß sie dieses Recht in den Grenzen des Naturgesetzes anwenden und es nicht zum Schaden der anderen Menschen mißbrauchen.“    
 
„Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Immanuel Kant (1724 – 1804) trifft diese Unterscheidung in dem Aufsatz, den er mit seinen berühmten Bestimmungen der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und der Mündigkeit als des Vermögens, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, einleitet. Was 1784 galt, gilt auch heute: Die Aufklärung ist nicht abgeschlossen, das Projekt ist unvollendet. Aufklärung vollzieht sich, wenn Kritik geübt wird. Kritik vollzieht sich als „freie und öffentliche Prüfung“, der sich weder Religionen noch Regierungen „entziehen“ können. Wahrheitsansprüche, die allein auf Autorität oder Macht gegründet sind, gelten nicht.
 
Bei den Freiheitsrechten der Menschen hat sich die Frage nach der Meinungsfreiheit besonders herausgebildet. An Versuchen, autoritäre Wahrheitsansprüche wieder zu etablieren, fehlt es bekanntlich in unserer Gegenwart nicht. Von einem „Zeitalter der Kritik“ zu sprechen, fällt angesichts der Angriffe von Rechtspopulisten, Extremisten und Neofaschisten gegen eine „freie und öffentliche Prüfung“ schwer. Einschüchterungen bis hin zu Inhaftierungen von Journalisten weisen darauf hin, dass die Ausbildung des Vermögens, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, durch Fake-News und offene Lügen verhindert und die Freiheit der öffentlichen Diskussion wie auch der Kulturen, Religionen und Weltanschauungen und der Ideen- und Lebensvielfalt - auch durch staatliche Gewalt - gefährdet ist.
 
Das Projekt der Aufklärung ist nicht in dem harmlosen Sinn unvollendet, dass Kritik und Freiheit sich im Vollzug und in der Öffentlichkeit bewähren müssen, solange kritikwürdige Zustände herrschen. Das Projekt ist in dem Sinn unvollendet, als die Gegenaufklärung buchstäblich marschiert: Sie will den immerhin erreichten Stand kritischer Öffentlichkeit, freier Medien und politischer Freiheit nicht nur auf eine vorargumentative Propaganda zurückdrehen, sie will den erreichten Stand persönlicher und politischer Freiheiten zu autoritären und nationalistischen Herrschaftsverhältnissen zurückzwingen. Das Projekt ist unvollendet und … es ist gefährdet. Die Gegenaufklärung will die politische und soziale Freiheit in Frieden und Demokratie zerstören.
 
Die UNO-Deklaration der Menschenrechte (1948), die durch Eleanor Roosevelt (1884 –1962) präsentiert wurde, ist eine entscheidende Grundlage unseres Lebens. «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» - wie es in Artikel 1 der UNO-Menschenrechtserklärung heißt. Die Freiheitsrechte (ihre Durchsetzung und Bewahrung) sind notwenige Voraussetzung für die Entwicklung freier Menschen in einer freien Gesellschaft. Eleanor Roosevelt, US-amerikanische Delegierte bei den Vereinten Nationen betonte bei der Vorlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Freiheit ist für jedes menschliche Wesen ein großes Bedürfnis. Mit Freiheit geht Verantwortung einher. Für eine Person, die nicht gewillt ist, erwachsen zu werden, eine Person, die nicht bereit ist, ihr eigenes Gewicht zu tragen, ist dies eine beängstigende Aussicht.“
 
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Grundrechtecharta der Europäischen Union führen diese Freiheitsgarantien fort.
 
Besonderes Augenmerk legt der Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften e.V. auf die Meinungsfreiheit, wie auf die Geistes-, Gewissens-, Presse-, Kunst-, Wissenschafts- und Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Sie sind in unserer Gegenwart gefährdet. Und dabei sind nicht nur autokratische Regimes wie Russland, Saudi-Arabien, Ungarn oder die Türkei gemeint, sondern die ganze Welt. Eine robuste Demokratie mit lebendiger Meinungsfreiheit und ein freier Rechtsstaat setzen sowohl die individuellen Rechte der Menschen als auch die Autonomie demokratischer Organisationen vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen voraus.
 
Menschenrechte und vor allem die Meinungsfreiheit sind mit liberalen Traditionen verbunden. Wir sind uns des hohen Gutes der Freiheit des Menschen gewiss. Welche Gefährdungen des Erreichten erkennen wir? Wie kann ein aufgeklärter und demokratischer Standard gegen seine Gegner verteidigt und bewahrt werden? Eröffnen sich zurzeit Möglichkeiten der Erweiterung von Freiheitsrechten überhaupt? Ist Meinungsfreiheit ein Zustand oder ein fortlaufender Prozess? Hat sie Grenzen? Findet Freiheit nur in der Geschichte statt? Ist Freiheit seit dem Austritt des Menschen aus der unmittelbaren Naturabhängigkeit durch die Vernunftbegabung als Tatsache gegeben? Ist der freie Wille eine Illusion, die den universellen Determinismus der Naturgesetze verkennt und übersieht?
 
Meinungsfreiheit ist notwendig, um die Freiheit zu haben, frei zu leben.
 
Dr. Volker Mueller, Falkensee
 
Ausgewählte Literatur:
- Jean-Jacques Rousseau: Vom Ge­sell­schafts­ver­trag. Stutt­gart 1986. S. 5.
- Louis de Jaucourt: Natürliche Freiheit – Liberté naturelle. In: Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie. Leipzig 1984. S. 581 f.
- Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Was ist Aufklärung? Stuttgart 2002. S. 9 – 17.
- Eleanor Roosevelt. Zitiert nach: https://www.deinemenschenrechte.de/voices-for-human-rights/eleanor-roosevelt.html (gelesen: 05.08.2023)
- Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. München 2018. Andreas Arndt: Freiheit. Köln 2019.
- Volker Mueller (Hg.): Freiheit und Erkenntnis. Schriftenreihe der Freien Akademie. Band 40. Berlin 2022.

Zum 200. Geburtstag des deutschen Indologen Max Müller (1823–1900)
Bei der Suche nach dem Goethe-Institut in der Republik Indien, das die deutsche Sprache und Kultur im Ausland pflegt und verbreitet, stößt man unwillkürlich auf den Namen des freigeistigen Sprach- und Religionswissenschaftlers und Indologen Max Müller. Mit Recht gilt Max Müller als einer der bekanntesten Deutschen in Indien.
Am 6. Dezember 1823 wird Friedrich Max Müller in Dessau geboren. Sein Vater Wilhelm Müller war als romantischer Dichter des Liederzyklusses „Die Winterreise“ und des Volkslieds „Das Wandern ist des Müllers Lust“ berühmt geworden. In Deutschland studiert Max Müller indische Philosophie und Sanskrit. Er führt seine Studien in Leipzig, Berlin, Paris und London fort. 1846 siedelt er nach England über, wo er seinen Plan verfolgt, eine textkritische Ausgabe der Rig-Veda, eine der ältesten Schriftensammlungen der Hindus, zu erarbeiten. Mit Unterstützung der East Indian Company und des englischen Indien-Ministeriums kann Müller ein reichhaltiges Archivmaterial erschließen, das britische Kolonialbeamte mitgebracht haben.
1854 wird er Professor in Oxford. 1868 schafft die Universität Oxford eine Professur für vergleichende Religionswissenschaft und ernennt Müller zum ersten Professor dieses Lehrstuhls. Dies erzeugt viel Unruhe in der Amtskirche, die das Fach als potentielle Gefahr für den universellen Anspruch des Christentums ansieht.
Müller begründet die vergleichenden Religionswissenschaften. Er analysiert Mythologien und Mythen als Bewusstwerdung natürlicher Phänomene, einer Art einfache Vorwissenschaft innerhalb der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Er vertritt eine darwinistische Auffassung von der Entwicklung der Kulturen. Nach der Auffassung Müllers beginnen die „Götter“ zunächst als abstrakte Begriffe zu wirken, mit denen man Ideen austauscht oder ausdrückt. Erst später werden sie personifiziert. So seien für den indogermanischen „Vatergott“ viele verschiedene Namen entstanden: Zeus, Jupiter, Dyaus Pita. Doch könne man alle diese Formen auf das Wort dyaus zurückführen, das er als „Erscheinung“ oder „Strahlung“ auffasst.
Von 1849 bis 1874 erscheinen sechs Bände seiner „Rig-Veda-Sanhita“, dann die Schriftenreihe „The Sacred Books of the East“ und 1859 sein Werk „A History of ancient Sanskrit literature“. Sensationell wirkt selbst auf europäische Religionswissenschaftler Müllers Methodik, mit der er hinduistische Texte in ihrem eigentlichen Wortlaut wieder herstellt. Er gilt als bedeutender Indologe und Sprachwissenschaftler seiner Zeit.
Die wissenschaftlich überprüfte und kommentierte Ausgabe des Rig-Veda wird schon zu Müllers Lebzeiten auch von Brahmanen und ranghöchsten religiösen Führern Indiens gelesen. Wenige Jahre vor seinem Tode wird Müller eine hohe Ehre zuteil: Auf einem religiösen Kongress in Puna, südöstlich vom heutigen Mumbai, wird Müllers Textedition begeistert aufgenommen und zur Diskussionsgrundlage, und die Brahmanen korrigieren ihre eigenen Textvorlagen nach den Angaben des „Non-Hindu“.
In freidenkenden Gruppierungen in Deutschland wird Max Müller ebenfalls bekannt. Der Giordano-Bruno-Bund führt Veranstaltungen in Berlin nach der Jahrhundertwende über nichtchristliche Religionen auf der Basis von Müllers religionsvergleichenden Studien durch und sie unterstützen die Herausgabe und Verbreitung seiner Werke. Das indische Denken wird in Deutschland wie in England insbesondere durch die wissenschaftlich sorgfältig herausgegebenen Werke des Hinduismus durch Müller intensiv verbreitet. Am 28. Oktober 1900 verstirbt Max Müller in Oxford.
Dr. Volker Mueller

Ausgewählte Literatur in deutscher Sprache:
- Max Müller: Deutsche Liebe. Aus den Papieren eines Fremdlings. Leipzig 1857.
- Max Müller: Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache. 2 Bände. Leipzig 1863/66.
- Max Müller: Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. Straßburg 1874.
- Max Müller: Vorlesungen über den Ursprung und die Entwickelung der Religion. Straßburg 1880.
- Max Müller: Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung. Leipzig 1884.
- Max Müller: Das Denken im Lichte der Sprache. Leipzig 1888.
- Max Müller: Aus meinem Leben. Fragmente zu einer Selbstbiographie. Gotha 1902.
- Nirad C. Chaudhuri: Friedrich Max Müller. Ein außergewöhnliches Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert. Heidelberg 2008.
- Volker Mueller. Friedrich Max Müller (1823 – 1900). In: Lexikon freien Denkens.

Mehr Demut gegenüber Natur bitte!
Als Max Wäldele mich bat, ein paar Zeilen für WoD zu schreiben, schickte er mir gleich ein Zitat von Schopenhauer mit, in dem Letzterer sinngemäß schreibt, dass die Pflanzen noch blutgieriger seien als die Menschen, und im Wald ein ständiges Morden zu spüren sei.
Ich fand dieses Zitat bezeichnend für Schopenhauer, Pessimist, der er war. Er vertritt hier eine Anschauung, die die Natur als Prozess ständiger Konkurrenz, als Kampf ums Dasein mit Sieg der Stärkeren (was immer dann darunter verstanden wurde) ansieht.
Dagegen könnte ich Peter Wohlleben anführen, der dem Wald eine Kommunikation zwischen den und den gegenseitigen Schutz der dort lebenden Wesen und Gemeinschaften zutraut.
Was ist nun die bessere Sicht? Keine von beiden. Und das bringt mich zum Thema „Demut“ gegenüber der Natur. Ich hatte sie in meinem Buch „Natur – unser Zuhause“ gefordert und begründet. Ich möchte diese noch etwas weiter ausführen.



Demut?
Demut ist die Haltung, mit der ich anerkenne, dass ich Grenzen habe, Grenzen des Könnens, des Wissens, des Begreifens, des Verstehens. Das ist die eine Seite der Demut. Die andere ist die Anerkennung, dass ich nicht alles bestimme oder bestimmen kann. Bezüglich meines Verhältnisses zur Natur heißt dies: Ich erkenne an, dass ein großer Teil der Kreislaufprozesse in der Natur meinen Horizont weit übersteigen. So dauert etwa der Phosphorkreislauf mehrere Millionen Jahre. Leichtfertiges Gewinnen von Phosphaten aus Abbaustätten führt daher zu einer Erschöpfung, ohne dass neues Phosphat nachkommt. Das nur als Beispiel, das ich durch andere ersetzen könnte, etwa die Entstehung von Grundwasser u.a.
Demut verlangt, diesen Unterschied zwischen dem kurzlebigen menschlichen Horizont und den langdauernden Naturprozessen anzuerkennen und entsprechend zu handeln. Demütig bin ich, wenn ich begreife, dass ich zwar diese Prozesse beeinflusse, aber nicht bestimme und kontrolliere.
Von dieser Einsicht sind wir in der heutigen westlichen Industriegesellschaft weit entfernt und wundern uns, wenn die Abläufe der Natur keine Rücksicht auf unsere menschlichen Bedürfnisse nehmen.

Demut 2?
Unterscheiden möchte ich meinen Begriff der Demut von dem der monotheistischen Religionen mit ihren Forderungen nach Demut vor dem Willen ihres Gottes, und der Forderung nach Unterwerfung unter dessen Willen.
In der Natur kann ich keinen dem menschlichen Willen vergleichbaren Vorgang feststellen, das sind anthropomorphe Annahmen. Zwar spricht Albert Schweitzer vom Leben, das leben will, genauer wäre es, das Leben als Aktivsein, als Tun zu bezeichnen, das überlebt und sich fortpflanzt. Etwas dem menschlichen Willen mit bewusster Zielsetzung  Vergleichbares findet sich auch bei Schweitzer nicht.
Der Wille Gottes hingegen kann sich nach den monotheistischen Religionen dem Menschen verständlich machen in Form von Regeln und Geboten, von Eingriffen in das Geschehen. Die Unterwerfung unter diesen Willen führt eher zu Hochmut als zu Demut, denn wer sich an alle Regeln hält und alles Geschehen auf einen anderen Willen zurückführt, weiß, was Sache ist und kann sich besser fühlen, sich für besser wissend und für einen besseren Menschen halten.
Das ist keine demütige Haltung mehr.

Demut gegenüber unserer eigenen Natur
Bis jetzt sprach ich von unserer Beziehung zur uns umgebenden Natur. Demut aber ist auch wichtig gegenüber unserer menschlichen Natur.
Ich komme zurück auf die beiden gegensätzlichen Ansichten zum Leben des Waldes. Sie entsprechen unserer menschlichen Neigung, die Welt zweizuteilen: hier ich, da alles und alle anderen, hier meine Gruppe, da die anderen, hier die Guten, da die Bösen, hier das Falsche, da das Wahre. Im Wald gibt es beides, Konkurrenz und Kooperation, und sie gehören zusammen.
Saubere Trennungen, wie wir sie gern zu machen pflegen, sind nicht aufzufinden. Es ist mühselig, sich dies immer wieder vor Augen zu führen, beim Urteilen immer wieder daran zu denken, dass Gutes und Schlechtes vermischt und verbunden sind. Diese Arbeit des Denkens braucht Demut, damit ich meine spontane Neigung zum Dualismus im Zaum halte und sie zähme.
Demut brauche ich auch bei unserer Neigung zum linearen Ursache-Wirkungs-Denken. Auch das ist uns eher in die Wiege gelegt als die mühselige Arbeit, Kreislaufprozesse und Rückkopplungsvorgänge zu bedenken. Es geht halt scheinbar so schnell, von einer Ursache auf eine Wirkung zu schließen oder umgekehrt, aber andere Ursachen, Verbindungen zwischen Ursachen und Neben- und Rückwirkungen zu bedenken, ist anstrengend und zeitraubend, aber notwendig.
Diese Demut schützt vor vorschnellen Machbarkeitsillusionen und Rettungsfantasien durch Technologien. Was diese Demut von uns noch verlangt, ist Bereitschaft zu lernen, zu lernen und zu lernen. Und sie verlangt, sich Zeit zu nehmen, bevor wir entscheiden und handeln, mehr miteinander zu reden, genauer hinzusehen und über die eigenen Augenblicksbedürfnisse hinaus zu sehen.
Ich wünsche Ihnen Freude dabei.
Renate Bauer

PS. Das Buch „Natur – unser Zuhause“ ist über den Angelika Lenz Verlag bzw. jede Buchhandlung zu beziehen.

Die Freiheit der Anderen –
Gedanken zum Welthumanistentag
Der Begriff Freiheit ist seit der französischen Revolution eines der großen Schlagwörter genau für das geworden, für was es steht – die Revolution. Es gibt etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Wofür es sich lohnt, sich zu erheben, seine Stimme einzusetzen als Wahlmöglichkeit gegen Einschränkung und Abhängigkeit, Fremdbestimmung und Gefangenschaft.
Die Freiheit wird mit dem Wort Privileg gleichgesetzt und ist gleichzeitig auch ein Privileg unseres Lebens in Deutschland. In einem Land, wo wir viele Freiheiten haben, vieles selbst entscheiden dürfen. Die Berufswahl, die schulische Laufbahn, die Garderobe, die Wahl der Wohnung, der Beziehung, der Parteizugehörigkeit, die religiöse oder weltanschauliche Ausrichtung. Immer ist es uns freigestellt, selbst zu entscheiden ohne jegliche Einschränkung. Diese Eigenständigkeit impliziert aber genauso eine große Eigenverantwortung wie sie auch Bewegungsfreiheit offenbart. Jeder Mensch trägt somit die Verantwortung, gewissenhaft und zuverlässig nach Maßgabe des Könnens eigene Entscheidungen umzusetzen. Dazu zählt neben dem freien Bewegen auch die Meinungsäußerung. Aber diese Freiheit auch zu nutzen, erfordert Mut weit über die eigene Entfaltung hinaus.
1. Was verstehen wir denn unter der Freiheit der Anderen?
Jeder Mensch entwickelt sich unter verschiedenen äußeren und inneren Einflüssen, die durch das soziale Umfeld und die persönliche Situation geprägt sind. So kann der Begriff der Freiheit auch für jeden Menschen einen unterschiedlichen Stellenwert haben und andere Dinge implizieren, als wir selbst für uns unter dem Begriff Freiheit verankern. Gerade deshalb ist es wichtig, ein Gefühl dafür zu bekommen, inwieweit sich mein Bild der Freiheit in das Abbild meines Gegenübers setzen lässt und wo ich beginne, der Person gegenüber mein Verständnis davon aufzuzwingen. Freiheit ist ein hohes und wichtiges Gut. Freiheit im eigentlichen Sinn beruht auf Anerkennung der Eigenrechte des Körpers, der Mitmenschen, der Natur. Anerkennung respektiert aber auch somit eine Grenze der Freiheit, ein Maß, das jegliche Gewaltanwendung verbietet und dazu führt, über Gleichberechtigung nachzudenken (https://sinnundgesellschaft.de/wie-gewinnt-der-mensch-innere-freiheit/). Freiheit ist somit eine Abfolge aus Reflexion, Abwägung und Urteilsbildung, um sich für eine bestimmte Handlung zu entscheiden und sich selbst zu verwirklichen. (https://sinnundgesellschaft.de/wiegewinnt-der-mensch-innere-freiheit/)
2. Was erwarten wir von anderen, wenn wir von Freiheit sprechen?
In erster Linie impliziert es die eigene Freiheit, den individuellen Blickwinkel auf unser Leben und die damit verbundenen Erwartungen. Solange diese frei ausgeschöpft und genutzt werden können, ohne von anderen Menschen mit Verboten, Gewalt oder Vorgaben eingeschränkt zu werden, ist ein Gleichgewicht vorhanden. Somit ist die Erwartung an die Person gegenüber, sich auf Augenhöhe respektvoll zu begegnen.
3. Welche Handlungsperspektiven offenbaren uns Freiheiten?
Jeder Mensch ist Urheber seiner Handlungen, sofern man diese ohne Zwang ausführt. Also übernimmt jeder Mensch auch mit seinen Handlungen eine Verantwortung für Dinge, die dadurch ausgelöst werden. Wenn eine solche Handlung also auch moralische Werte verletzt, Gewalt und Hass schürt, können Freiheitsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Durch Verurteilung, Gefängnis, Folter, Verbote, Gewalt und Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte. Schon im Grundgesetz Artikel 2 stehen diese persönlichen Freiheitsrechte an vorderster Stelle:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Auch die Gedankenfreiheit, die Freiheit des Denkens, besonders im Hinblick auf weltanschauliche und politische Ziele ist davon nicht ausgenommen. Unsere Freiheit ist abhängig davon, wie wir im Hier und Jetzt mit ihr umgehen. Dabei ist es wichtig, dass die eigene Freiheit nicht zulasten der Freiheit anderer gehen darf.

Silvana Uhlrich-Knoll

World Humanist Day (Welthumanistentag)

1. Warum feiern wir den 21. Juni als Welthumanistentag?
Der Welthumanistentag findet jährlich am 21. Juni statt. Im Rahmen einer Konferenz der Humanists International im Jahr 1986 wurde die Sommersonnenwende zum Welthumanistentag erklärt. Der Welthumanistentag ist ein Feiertag für alle Menschen, die ihr Leben ohne Orientierung an einer religiösen Konfession und auf Grundlage einer humanistischen Welt- und Lebensauffassung führen.
Eine Sonnenwende oder auch Solstitium (lateinisch für „Sonnenstillstand“) findet zweimal im Jahreslauf statt – in geographischen Breiten außerhalb der Tropen wird zu diesem Datum der niedrigste oder der höchste mittägliche Sonnenstand erreicht. Zur Sommersonnenwende im Juni erreicht die Sonne als Symbol für Leben und Licht in Breiten oberhalb des nördlichen Wendekreises ihren Höchststand. Die Sommersonnenwende markiert den Beginn des astronomischen Sommers. Es sind der längste Tag und die kürzeste Nacht. Wenn die Sonne ihre größte nördliche Deklination von 23,4° erreicht, steht sie senkrecht über dem so genannten Wendekreis der Erde.
Eine wachsende Zahl konfessionsfreier und säkular eingestellter Menschen nimmt das astronomische Ereignis der Sommersonnenwende zum Anlass, am „längsten Tag des Jahres“ den Dialog über ihre Überzeugungen und Erfahrungen zu erneuern und sich bei gemeinsamen Feiern zu begegnen und wiederzusehen.
Der Feiertag soll auch dazu dienen, an die zentralen Werte, Ideen und Prinzipien einer humanistischen Lebensauffassung zu erinnern: vernunftorientiertes und rationales Denken, Selbstbestimmtheit, Individualität, Solidarität und Mitgefühl sowie die Gewissheit, dass alle Menschen nur ein einziges Leben besitzen.

2. Wie feiern andere den Tag? Warum brauchen wir ihn?
Eine alte Tradition mit modernem Sinn: Schon seit Jahrtausenden nutzen vielen Kulturen der Welt das astronomische Ereignis der Sonnenwenden, um Feste zu feiern. Die Verehrung der Sonne und des wiederkehrenden Lichtes geht auf Traditionen in prähistorischer Zeit zurück. Die Sonne hat essenzielle Bedeutung für das irdische Leben. Die Sommersonnenwende trägt einen Aspekt der Vergänglichkeit in sich. Dem gegenüber stehen die länger werdenden Tage nach der Wintersonnenwende, die Leben verkörpern. Diese Wendepunkte schlugen sich entsprechend in Ritus und Mythologie nieder. Bemerkenswert ist, dass die Sonne im abendländischen Kulturkreis immer dem männlichen Prinzip zugeordnet ist; jedoch besteht hier eine Ausnahme im germanischen Sprachraum, welcher in der Sonne die Mutter sieht.
Den Tag der Sommersonnenwende betrachten seit je manche Menschen als besonderen, gar als mystischen Tag; manche begehen ihn mit weltlichen oder religiösen Feierlichkeiten. Sonnenwendfeste hatten vor allem in den germanischen, nordischen, baltischen, slawischen und keltischen Kulturkreisen einen festen Platz. Die größte Sommersonnwendfeier in Europa findet in Stonehenge statt, die größte Deutschlands an den Externsteinen im Teutoburger Wald. Die südlichste Sommersonnenwendfeier findet seit 1929 in der spanischen Region Alicante statt. Das Golowan-Fest findet in Cornwall statt. Seit der Christianisierung Europas werden diese Feiern oft mit dem Heiligen des 24. Juni, Johannes dem Täufer, verbunden.
Das typische Juni-Sommerwetter und die in mittleren Breiten der Nordhalbkugel noch frühlingshafte Wachstumsstimmung in der Natur ist ideal für Freiluftveranstaltungen aller Art. So ist die Sonnenwende ein willkommener Anlass (und bei manchen bewusster Grund) für Feste oder Feiern um diesen Tag herum. Sonnenwendfeiern werden von unterschiedlichen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wie auch Freireligiösen und Freidenkern, Vereinen, Freiwilligen Feuerwehren, Gemeinden und Tourismusverbänden veranstaltet.
Die Sonnenwende wird meist auch mit einem Feuer gefeiert. Die Feuerfeste zur Sommersonnenwende in den Pyrenäen sind sogar als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt.
Natürlich ist es von Land zu Land unterschiedlich, wie die Wende der Sonne zelebriert wird. In den skandinavischen Ländern und im Baltikum, wo es im Sommer nachts kaum dunkel wird, sind die Bräuche lebendiger geblieben. In Schweden zählt Midsommar neben Weihnachten zu den wichtigsten Familienfesten des Jahres. In Dänemark und Norwegen gibt es an vielen Orten Fackelumzüge und üppige Mahlzeiten. Die Finnen zieht es in ihre Hütten auf dem Land. In Estland und Lettland ist der Johannistag ein Feiertag, Freunde und Familien treffen sich im Garten oder im Wald, zünden Feuer an und grillen.
Was können Humanistinnen und Humanisten, freigeistige Menschen an diesem besonderen Tag im Jahr, am Welthumanistentag machen?
• die Verabschiedung von Erklärungen anlässlich des Feiertages durch demokratisch gewählte Interessenvertretungen gegenüber der Öffentlichkeit
• eine Matinee, ein Picknick oder eine Party
• feierliche Zeremonien, welche die besondere Bedeutung des Tages („Helligkeit“ und „Dunkelheit“) reflektieren und hervorheben
• öffentlichkeitswirksame Aktivitäten, Podiumsdiskussionen und Filmvorführungen
Das sind nur einige Möglichkeiten, wie der internationale Feiertag auf eine würdige und verbindende Weise begangen werden kann – und um zusammen neu Kraft zu schöpfen, zurückzublicken und gemeinsam neue Perspektiven zu entwickeln.
Denn trotz zahlreicher Fortschritte, die im Kleinen stattfinden, sind humanistische Haltungen, Überzeugungen und Ideen an so gut wie keinem Ort der Welt selbstverständlich. Tiefgreifende wirtschaftliche und andere Krisenlagen in Europa, ein weitverbreitetes egoistisches und oft rein ökonomisch orientiertes Denken sowie extremistische Stimmungsmache finden wir heute gleichermaßen häufig vor wie das Aufblühen esoterischer, fundamentalistischer sowie anti-demokratischer und rechtspopulistischer Stimmen oder Organisationen in unserer Gesellschaft. Die allgemeinen Errungenschaften eines offenen, demokratischen, friedlichen sowie von Aufklärung und Vernunft geleiteten Gemeinwesens bedürfen der ständigen Erneuerung. Der jährliche Welthumanistentag bietet ebenfalls einen hervorragenden Anlass, sich hier gemeinsam über die Handlungsoptionen zu vergewissern.
Im Dezember 2014 hat die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft mitgeteilt, dass der Feiertag entsprechend der Regelungen für religiöse Feiertage in die Ausführungsvorschrift (AV) Schulbesuchspflicht aufgenommen wurde. Ähnliches gibt es z.B. in Bayern. Dies gibt seitdem humanistischen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, sich zur Pflege ihrer Feierkultur auf Antrag beurlauben zu lassen. Der Tag gilt, wie die freien Tage aus religiösen Gründen, als unterrichtsfreier Tag und nicht als Fehltag. Die Beurlaubung setzt das Bekenntnis zur humanistischen Weltanschauung voraus.

3. Was wünschen wir uns für die Zukunft?
Zurzeit leben wir in einer besonderen Krisenzeit. Nichts ist einfach wieder so, wie es vor der Pandemie mit dem Coronavirus war. Das Leben musste eingeschränkt werden. Unsere Gesundheit steht seitdem im besonderen Maße im Vordergrund. Weltweit sind an COVID-19 zigtausende Menschen gestorben und sterben immer noch. Und wir erleben einen Krieg mitten in Europa, in der Ukraine, deren Auswirkungen wir in unserem Leben spüren. Stehen wir mit allen Menschen zusammen, sind wir hilfsbereit und solidarisch, damit wir alle diese Zeit gut überstehen.
Im Vordergrund bleibt auch – nicht nur am Welthumanistentag –, dass wir Aufklärung und Humanismus in allen Fragen des sozialen und persönlichen Lebens als wesentliche Orientierungen respektieren und aktiv gestalten. Humanistische Lebensorientierungen und Lebensgestaltungen sollen weltweit genauso akzeptiert werden, wie alle anderen Lebensauffassungen.
Wir benötigen Solidarität und Toleranz, keinen Rassismus und keine Gewalt, keinen Krieg.
Wir benötigen Frieden und Freiheit in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem die Menschenwürde und die Menschenrechte die entscheidenden Werte des Miteinanders sind.
Wir benötigen Achtsamkeit und Lebensfreude, damit wir fröhlich und glücklich leben und feiern können.

Dr. Volker Mueller, Juni 2023

Sonnenwendfeiern –
Frei-religiöse Gemeinde Offenbach
Heller und dunkler werdende Tage versprechen die astronomischen Ereignisse der Winter- und Sommersonnenwende. Das sogenannte „Solstitium“, der „Sonnenstillstand“, war und ist für die Freireligiösen Anlass, die Natur, ihre sichtbaren Himmelsereignisse und die damit einhergehenden Jahreszeiten zu feiern. Die Sonne als Licht-, Lebens- und Wärmespenderin wurde seit jeher von den verschiedensten Kulturen gefeiert. Die Himmelsscheibe von Nebra zeugte schon vor über 4000 Jahren von den menschlichen Kenntnissen über die Sonnenwende. Und auch Christi Geburt wurde mit der Einführung des Julianisches Kalenders auf den 25. Dezember gelegt – den damaligen Tag der Winter-Sonnenwende!
Für uns Frei-religiöse stehen beim Feiern im Lichte des Sonnenwendfeuers Natur und Mensch im Mittelpunkt. Es geht um die Besinnung auf das Wesentliche: Die Eingebundenheit jedes Lebens in die allumfassende Natur, das Mit- und Füreinander in einem würdevollen Zusammenleben und um den gleichen Umgang mit unserer einzigartigen Erde. All dies ist für uns unmittelbar religiös, ganz ohne Rückgriff auf den einen Gott: Denn was übersteigt unseren Verstand mehr als die immer wieder wunderbare Natur und das menschliche Wesen selbst.
Dazu aus William James „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“:
„Religion ist, was immer sie sonst sein mag, die Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben; sie ist etwas anderes als eine situationsbedingte Reaktion; und Grundhaltungen sind etwas anders als das Verhalten im Alltag und um Beruf. Um zu ihnen, [also den Grundhaltungen], zu gelangen, muss man durch die Oberfläche der Existenz hindurch hinabreichen zu jenem Eigenartigen Empfinden, in dem wir den ganzen übrigen Kosmos als etwas ständig Gegenwärtiges erfahren, sei es uns vertraut oder fremd, erschreckend oder erheiternd, liebens- oder hassenswert.
Dieses Empfinden für die Gegenwart der Welt nimmt einen mehr oder weniger in Besitz, und je nachdem, wie es sich auf uns auswirkt, macht unser Verhältnis zum Lebensganzen anstrengend oder unbekümmert, unterwürfig oder anmaßend, schwermütig oder exaltiert, d.h. aufregend, und unsere willkürliche, [unausgesprochene], kaum unbewusste Reaktion ist selbst schon die erschöpfendste aller unserer Antworten auf die Frage:
„Wie beschaffen ist dieses von uns bewohnte Universum?““

Pfr. Pascal Schilling
„Ich mal mir die Welt, wie sie mir gefällt“
Dieser schöne Satz aus Pippi Langstrumpfs Mund lädt uns in ein Bild von Freiheit ohne Regeln, ohne Verantwortung, ohne Schwermut ein. Es könnte so schön sein, wenn dieses verklärte Bild eines tollen Kinderabenteuers nicht den Tatsachen entsprechen würde. Wie einfach ist es doch, mit Falsch-Etikettierung und Green-Washing unsere Missstände auszubessern und in Luft aufzulösen.
Der Verkauf von CO2-Zertifikaten beispielsweise ist an finanzielle Bedingungen geknüpft, die die Menschen in Afrika, Südamerika und Co. dazu drängen, ihren Lebensstil zu ändern, um den Lebensstil des Westens auszugleichen. Also gibt es im Westen nichts Neues, aber dort in den Ländern, wo die Ärmsten der Armen leben und abhängig sind von unserem Geld, welches wir ausgeben, um uns freizukaufen und reinzuwaschen.
Auch in Deutschland kaufen wir uns von unserem schlechten Gewissen frei. Die benannten Klimaziele werden den neuen Autobahnen in den Rachen geworfen, der Zugverkehr rollt weiter auf maroden Schienen, aber Ausnahmen wird es weiterhin für E-Fuels geben, die wahrscheinlich auch rein(gewaschen) sind. Wir verbergen uns hinter falschen Tatsachen, schaffen und erschaffen, kreieren sogar eine neue Welt à la Claas Relotius, um dann aus dieser Blase heraus auf das Recht der richtigen Meinung zu pochen.
Mein schlechtes Gewissen holt mich schon ein, wenn ich mir einmal erlaube, Essen verpackt mit nach Hause zu nehmen und wir irgendwie versuchen, die Plastiktüten sinnvoll weiter zu nutzen, um diese nicht gleich wieder in den Müll zurückzugeben. Auch auf meinem kleinen Grundstück haben sich erste Spuren zu erkennen gegeben. In den letzten Jahren haben es zwei Bäume nicht geschafft, gesund weiter zu bestehen. Wir mussten beide schweren Herzens den Baumfällern freigeben und wurden dafür um Kompensation durch die Stadt gebeten. Bis zu vier Bäume pflanzen wir nun für einen gefällten Baum. Wenn ich mir überlege, wieviel auf solch einem kleinen Grund möglich erscheint und verlangt wird, müsste unsere Erde ihre grüne Lunge längst erneuert haben. Aber unsere Erde hat Asthma, sie schnappt nach Luft vor lauter Dreistigkeit und Arroganz der Menschen.
Selbst in meiner letzten Yogastunde ging es um das Thema Wahrheit, unsere innere und äußere Wahrheit. Dass wir oft selbst einem Bild entsprechen, was von außen geprägt ist und wir dabei unseren Blick nach innen vergessen. Und somit uns selbst belügen, uns etwas vormachen. Das gilt anscheinend für weit mehr Bereiche, als uns genehm ist. Dies lässt sich so gerne hinter fadenscheinigen Begriffen wie CO2-neutral, sustainable product und klimafreundlich verbergen. Wie kann auf einmal fast jedes Produkt eines Kleidungsherstellers nachhaltig sein, wenn die Mode für 5 € kaum den Stoff bezahlt, der ein Kleidungsstück ausmacht und sich diese Kleidungsstücke auch nicht verändert haben? Das ist Green-Washing im reinen Sinne und zählt zu den vielen Sachen, von denen wir nichts wissen wollen.
Die Autorin Anna Mayr formuliert es in ihrem neuen Buch „Geld regiert die Welt“ mit einer gewissen Bürgerpflicht zur Reflexion. Man sollte skeptisch mit allen Dingen umgehen, nicht nur mit den Dingen, welche andere tun, sondern auch mit denen, die man selbst macht und ausgibt. Doch welcher Person kann man vertrauen, wenn wir uns selbst nur etwas vormachen? Kann man sich selbst noch vertrauen? Ist es nicht immer die Industrie, die verkauft, an die wir uns selbst verkaufen? Und so müssen sogenannte weiche Ziel immer wieder gegen die Industrie kapitulieren. Haben da die Grünen überhaupt eine Chance gegen diese Lobby des Geldes?
Wenn die grüne Oberfläche, die wir mit CO2-Zertifikaten in Afrika verkaufen, so gut und unschuldig wäre, wie sie klingt, würde dann nicht die nördliche Hemisphäre besser geeignet sein als Afrika? Nach allen, was wir wissen, kann Kenia nicht grüner als der größte Teil von Europa oder den USA und Kanada sein.
Diese Mentalität von „Lasst uns unsere Industrie vermarkten“ und „Lasst andere die Last unserer Verantwortung bezahlen“ zeigt auch den Weg, wie einige Länder ihren nuklearen Müll nach Afrika verschiffen, nachdem sie den Nutzwert ausgeschöpft haben und im afrikanischen Hinterland sich die Menschen an den Folgen aller Arten von Krankheitsbildern erfreuen können. Endstation Sehnsucht nach einer besseren Welt sieht definitiv anders aus. Auch hier spielt Kenia neben Tansania, Mali und Nigeria eine wichtige Rolle. Und das sind alles Länder, mit denen auch Deutschland versucht, Bündnisse zu knüpfen bzw. schon längst welche bestehen.
Diese Mentalität hat nichts mit einer entwickelten Welt zu tun, sondern mit dem Versuch, andere für unsere Fehltritte bezahlen zu lassen. Dabei wird es aber keinen Zugewinn für Afrika geben, sondern macht Afrika nur zu einer neuen Müllhalde anstatt unseren Planeten zu retten.
Welche Art von Freiheit erkaufen wir uns, wenn wir nur auf Zeit spielen? „Alles nicht so schlimm“, „sieht doch alles harmlos aus“ oder „hier ist doch alles in bester Ordnung“ sind typische Beispiele für unsere Scheuklappenmentalität. Ist es uns wirklich so egal, wie es unseren Kindern und Enkelkindern später gehen wird? Aber soweit brauchen wir gar nicht zu schauen, sondern ein Streifzug durch die grüne Lunge unserer Welt macht schon sehr nachdenklich. Ob in Finnland, in den Alpenübergängen nach Italien oder im brandenburgischen Wald sind die asthmatischen Auswirkungen im erkrankten Baumbestand deutlich zu sehen. Da schlägt mein allergisches Immunsystem Alarm und ich frage mich, wie es sich körperlich anfühlt, wenn uns die Luft wegbleibt oder mir im übertragenden Sinne? So fühlt sich keine Freiheit an, nur eine teuer erkaufte, die uns irgendwann wieder auf die Füße fällt.
Doch Pippi Langstrumpf hatte bestimmt nichts Böses im Sinn, noch weniger Astrid Lindgren, die der Literaturwelt diesen wunderbaren Charakter geschenkt hat. Eigenwillig und immer gegen den Strom schwimmend ist sie vielleicht das Zeichen zur kleinen Rebellion, nicht dieselben Fehler zu machen wie Goliath. Sich für das kleine Ziel vor Ort einzusetzen, um am großen Ganzen mitzuwirken. Malen wir uns doch nicht nur eine schöne, gesunde Welt, sondern sind proaktiv und selbstbestimmt wie Pippi es vorlebt - mutig voran, bis nicht nur wir Gefallen daran finden, sondern auch anderen damit einen Gefallen tun.

Lamine Madani und Silvana Uhlrich-Knoll

Quellen: Anna Mayr „Geld regiert die Welt“
https://ourworldindata.org/co2-emissions
https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/co2-zertifikate-netflix-luxus-kritik?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
Zurück zum Seiteninhalt