BLOG Die Gedanken sind frei
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Demokratie unter Druck
von Ortrun Lenz | 25.09.2025
Wie können Menschen friedlich zusammenleben, obwohl sie vor allem eines sind: total unterschiedlich? Mit verschiedenen Eigenschaften und Temperamenten ausgestattet, prallen ihre Ansichten immer wieder aufeinander. Als Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften ist es uns wichtig, für ein friedliches Zusammenleben der Menschen einzutreten, und zwar unabhängig von ihren religiösen, weltanschaulichen und politischen Anschauungen. Demokratie ist unserer Erfahrung nach eine der größten Errungenschaften westlicher und vieler anderer Gesellschaften. Sie gilt es zu verteidigen. Doch in den letzten Jahren scheint das nicht mehr so selbstverständlich zu sein, wie man bis vor nicht allzu langer Zeit dachte.
Antidemokratische Tendenzen weltweit
Wenn man sich die derzeitigen Meldungen aus verschiedensten Regionen der Erde anschaut, zeigt sich eine besorgniserregende Entwicklung. Die Meinungs- und Pressefreiheit wird eingeschränkt: Journalistinnen und Journalisten werden in vielen Ländern unter Druck gesetzt oder sogar verfolgt, sodass kritische, unabhängige Berichterstattung schwierig wird. Populistische und rechtsextreme Parteien sowie auch fundamental-religiöse Gruppierungen erhalten immer mehr Zustimmung, was zur Folge hat, dass Minderheiten ausgegrenzt werden und die internationale Zusammenarbeit gefährdet ist.
Technologische Überwachung mit Hilfe digitaler Tools war ursprünglich dazu gedacht, für eine verbesserte Sicherheit zu sorgen. Mittlerweile dienen diese technischen Möglichkeiten autoritären Regimen immer öfter dazu, Bürgerinnen und Bürger zu kontrollieren, um „unliebsame“ Entwicklungen wie allzu große Meinungsvielfalt zu unterbinden. NGOs und Verbände werden in vielen Ländern zunehmend eingeschränkt oder sogar verboten, vor allem, wenn sie sich für die Rechte von Minderheiten, eine freiheitliche und vielfältige Gesellschaft und Menschenrechte im Allgemeinen einsetzen. Das alles, aber vor allem Letzteres, betrifft auch uns als Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften.
Warum das auch uns etwas angeht
Man könnte meinen: „Das alles ist weit weg und es geht ja nicht um die Toleranz gegenüber freigeistigen Organisationen.“ Aber autoritäre Strömungen machen weder vor bestimmten gesellschaftlichen Gruppierungen noch an Grenzen halt. Desinformation und Falschmeldungen verbreiten sich über Internet und soziale Netzwerke in kürzester Zeit. Populistische Narrative, die in einem Land bestimmte Wähler ansprechen, werden offenbar ohne große Hindernisse von Bewegungen in anderen Ländern übernommen und breiten sich weiter aus. In Deutschland, in Europa ist die Demokratie keine Selbstverständlichkeit mehr - etwas, das ich mir zu meiner Schulzeit, also vor ein paar Jahrzehnten, nicht hätte vorstellen können. Wie konnte es dazu kommen, dass rechtspopulistische Parteien erstarken, Verschwörungsmythen immer neue Anhänger finden? Liegt es nur an der Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik? Klar, nicht alles ist perfekt, vieles leider sehr weit entfernt davon. Aber der Demokratieabbau breitet sich auf erschreckende Weise aus und schwächt die gesamte internationale Wertegemeinschaft. Langfristig werden auch unsere Freiheitsrechte hier gefährdet.
Für uns als freigeistige und humanistische Gemeinschaften bedeutet das: Wenn autoritäre Ideologien erstarken, geraten die Freiheit des Denkens, die weltanschauliche Neutralität und die Menschenrechte unmittelbar unter Druck.
Die Rolle weltanschaulicher Gemeinschaften
Toleranz Andersdenkenden gegenüber war immer eines der wichtigsten Merkmale der freigeistigen Organisationen. Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, die Kräfte zu bündeln, und dazu brauchen wir Vielfalt, nicht verordneten Einheitsbrei, der alles „Fremde“ schlechtredet. Weltanschauungsgemeinschaften, die sich der Aufklärung, Humanität und Demokratie verpflichtet fühlen, können einen entscheidenden Beitrag leisten, um für eine offene, vielfältige Gesellschaft einzutreten. Das kritische Denken an sich muss weiterhin eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Diskussionen können sehr anstrengend sein, aber überall, wo Menschen zusammenkommen, wird es immer unterschiedliche Ansichten geben.
Klassische Bildungsarbeit mit Vorträgen, Publikationen und Diskussionsforen, wie die freigeistigen Verbände sie schon seit jeher anbieten, ist nach wie vor sinnvoll. Nur, wer gut informiert ist, kann sich in der teils chaotisch wirkenden Nachrichtenflut von heute orientieren. Kritisches Denken war und ist immer wichtig, um Vorgänge richtig einordnen zu können, die zunächst oft sinnfrei wirken und Ängste auslösen können. Um Manipulation durchschauen zu können, braucht man heute auch Medienkompetenz. Diese sollte schon in den Schulen vermittelt werden. Mit dem derzeitigen KI-Boom sind wir schon längst in eine neue Ära gestartet, deren rasante Entwicklung oft überfordernd ist. Um „falsch“ von „echt“ unterscheiden zu können, ist es einfach unerlässlich, sich mit Künstlicher Intelligenz auseinanderzusetzen. Freigeistige Gemeinschaften, wie sie unter dem Dach des DFW vereint sind - und viele weitere befreundete Organisationen -, sind für Pluralismus, internationale Solidarität und humanistische Werte. Diese Säulen sichtbar zu machen, sie in die öffentlichen Diskussionen einzubringen, ist eine unserer Aufgaben.
Engagiert und solidarisch bleiben
Demokratie ist anscheinend leider nicht selbstverständlich, auch wenn ich und viele meiner Generation das immer dachten. Engagierte Menschen müssen sie wertschätzen, verteidigen und weiterentwickeln. Natürlich stellt sich die Frage: Was kann jede und jeder Einzelne beitragen – und was können Verbände wie der DFW tun? Wir können immer wieder und immer weiter informieren, aufklären, uns solidarisch zeigen, uns in unseren Verbänden engagieren, Haltung zeigen, beispielsweise auch auf entsprechenden Demonstrationen, und wir können auch selbst Dialogräume schaffen. Wir informieren mit unseren Publikationen, über unsere Website, diesen Blog, auf Veranstaltungen verschiedenster Art in Präsenz und auch per Videokonferenz.
Für Anfang nächsten Jahres planen wir beispielsweise ein Online-Seminar zu aktuellen Themen. Wir werden rechtzeitig dazu einladen - stay tuned :-)

Das menschliche Gehirn – seine Evolution, Fähigkeiten und Geheimnisse
Von Dr. Volker Mueller | 09.09.2025
Über Jahrhunderte hinweg waren den Menschen das Gehirn, das Denken und Wollen, das Erinnern, Erkennen, Lernen und Erfinden ein Rätsel. Das menschliche Gehirn fasziniert Menschen seit jeher. Und auch wenn viele Geheimnisse noch verborgen sind, wissen Forscherinnen und Forscher heute mehr darüber, als je zuvor. Die einen suchen danach, wie Gefühle im Gehirn entstehen, andere danach, wie wir eigentlich lernen und Wissen erwerben. Einige forschen daran, wie sich Krankheiten des Gehirns auf unsere Persönlichkeit auswirken, andere, ob sich Intelligenz auch künstlich herstellen lässt. /1/ Fragen und Ergebnisse der gegenwärtigen Hirnforschung sind auch aus interdisziplinärer Sicht bedeutsam und zu beurteilen.
Für das Leben eines Organismus ist bekanntlich ein Gehirn nicht unbedingt erforderlich. Einzeller, Pflanzen und wirbellose Tiere kommen seit Ewigkeiten auch ohne Gehirn zurecht. Bei sog. „höher entwickelten“ Tieren ist das anders. Bei ihnen gehört ein Gehirn zur Grundausstattung. Evolutionshistoriker Thomas Junker betont, dass das Gehirn die Schnittstelle bildet, an der ankommende Reize der Außenwelt in Befehle zur Muskelreaktion, also in Verhalten, umgewandelt werden. /2/ Wir wissen heute, dass die Evolution rund 650 Millionen Jahre benötigte, bis sie aus einfachen Nervensystemen, wie man sie etwa bei Quallen oder Seeanemonen findet, das komplexe und leistungsfähige Gehirn des Menschen geformt hatte.
Zwar ist das menschliche Gehirn mit einem Gewicht von ca. 1400 Gramm nicht das schwerste im Tierreich. Bei Elefanten wiegt das Gehirn rund 5000, bei Pottwalen sogar bis 9000 Gramm. Bezieht man indes die Körpermaße bei den Überlegungen mit ein, dann besitzt der Mensch ein erheblich größeres Gehirn, als man aufgrund seiner Maße erwarten sollte. Im Durchschnitt der Säugetiere ist das Gehirn beim Menschen fast achtmal, beim Delphin fünfmal und beim Schimpansen zweieinhalbmal so groß. Bei allen drei Arten wuchs das Gehirn in der Evolution schneller als der Körper. Am schnellsten geschah dies beim Menschen, dessen Gehirn in ein paar Millionen Jahren um fast 1000 Gramm zulegte.
Bleibt die Frage nach den Ursachen dieser enormen Vergrößerung /1/. Unbestritten sei, dass ein leistungsfähiges Gehirn unseren Vorfahren im evolutionären Überlebenskampf Vorteile verschafft habe. Doch worin bestanden diese Vorteile? Der Mensch habe dank seines großen Gehirns eine im Tierreich einzigartige Intelligenz entwickelt. Dadurch sei es ihm möglich gewesen, auch unter widrigen Umweltbedingungen und in einer Welt voller Feinde zu bestehen. Unter Anthropologen war lange die Auffassung vorherrschend, dass die frühe Entwicklung des menschlichen Gehirns hauptsächlich unter dem Druck der Herstellung neuer Werkzeuge und Waffen erfolgt sei. Denn deren Einsatz habe es unseren Vorfahren erlaubt, auch größere und mehr Tiere zu erlegen und als Nahrung zu nutzen. Die dadurch zusätzlich gewonnene Energie konnte in eine weitere Vergrößerung des Gehirns „investiert“ werden, die sich wiederum förderlich auf die Entwicklung der menschlichen Intelligenz auswirkte.
Ohne Zweifel hat die Werkzeug- und Waffenherstellung bei der Herausbildung der Intelligenz des Menschen eine wichtige Rolle gespielt. Gleichwohl sind viele Wissenschaftler heute der Auffassung, dass die eigentliche Triebkraft der menschlichen Intelligenzentwicklung auf einem anderen Feld zu suchen ist: auf dem Feld des Sozialen. Die Intelligenz, die sich hier entfaltete, wird auch Machiavellische Intelligenz genannt – in Anlehnung an den Renaissance-Philosophen Niccolò Machiavelli. Kurz gesagt, bezeichnet die Machiavellische Intelligenz die Fähigkeit eines Menschen, sich in einer sozialen Gruppe gegenüber anderen Gruppenmitgliedern zu behaupten. Für den Einzelnen ist es dabei wichtig zu wissen, wer in der Gruppe das Sagen hat, wer sich mit wem angefreundet oder verfeindet hat, wem man im Notfall vertrauen kann. Wer es darüber hinaus vermag, sich in die Gefühlslagen anderer hineinzuversetzen und deren Handlungen im Voraus abzuschätzen, gewinnt zusätzliche Vorteile. Um all diese Aufgaben zu bewältigen, bedarf es einer hohen Hirnleistung beziehungsweise Intelligenz. Die Formen des Denkens, die zuerst bei der Lösung sozialer Probleme entwickelt worden seien, so behaupten die Verfechter der Theorie der Machiavellischen Intelligenz, hätten sich im Nachhinein auch für das Verständnis der Gesetzmäßigkeiten der unbelebten Natur als geeignet erwiesen.
Thomas Junker sagt /3/, dass sich tatsächlich ein Zusammenhang ergebe, wenn man die Größe einer Gruppe als einen Indikator für soziale Komplexität nimmt und sie mit dem Anteil des Neocortex am gesamten Gehirn vergleicht. Der Neocortex ist der stammesgeschichtlich jüngste Teil der Großhirnrinde, in dessen Zuständigkeit die komplexeren Formen der Informationsverarbeitung fallen. Je größer nun die sozialen Gruppen seien, in denen Tiere leben, desto höher sei der Anteil des Neocortex am Gesamtgehirn. Die Intelligenz eines Tieres begrenze wohl die maximal erreichbare Gruppengröße. Wenn die Gruppe größer werde, seien die Individuen nicht mehr in der Lage, die sozialen Beziehungen aufrechtzuerhalten, und die Gruppe zerfalle. Bei Schimpansen läge die maximale Gruppengröße bei 50 bis 55 Individuen, was recht gut mit empirischen Beobachtungen übereinstimmt. Beim Menschen kommt man auf eine maximale Gruppengröße von 100 bis 200 Personen. Dies entspricht der durchschnittlichen Größe sozialer Gruppen bei heutigen Jägern und Sammlern, etwa im Amazonasgebiet oder in Zentralafrika.
Die Frage, welche Form der Intelligenz von größerer Bedeutung für die Menschwerdung sei, wird bis heute kontrovers diskutiert, wenngleich immer mehr den sozialen Faktoren der Vorzug gegeben wird. Eine interessante Entdeckung hat ein Anthropologenteam um Mary Ann Raghanti in den USA gemacht /4/. Danach ging die „Menschwerdung des Affen“ aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit einem kontinuierlichen Wachstum des Gehirns einher. Etwas habe sich verändert, bevor das Gehirn groß wurde und bevor wir diese erweiterte Hirnrinde entwickelten. Die Forscher vermuten, dass sich zunächst Veränderungen in der Hirnchemie vollzogen, die insbesondere das Sozialverhalten unserer Vorfahren beeinflussten. Natürlich kann man solche Veränderungen heute nicht mehr nachweisen. Denn von unseren vor Jahrmillionen lebenden Vorfahren sind bestenfalls fossile Schädelknochen übriggeblieben. Deshalb untersuchten Raghanti und ihre Kollegen die Gehirne von rezenten Primaten, von Menschen, Schimpansen, Gorillas, Pavianen, Makaken und Kapuzineraffen. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt dabei dem sogenannten Striatum, einer zu den Basalganglien des Großhirns gehörenden Region, die maßgeblich an der Steuerung sozialer Verhaltensweisen beteiligt ist.
Die Unterschiede in der Hirnchemie könnten weitere evolutionäre Veränderungen in Gang gesetzt haben, darunter die Entwicklung des Paarungsverhaltens und der Sprache. Laut der von US-Forschern entworfenen neurochemischen Hypothese über den Ursprung der Hominiden paarten sich nach der Umstrukturierung des Gehirns immer mehr Frauen mit Männern, die zuverlässig und weniger aggressiv waren. Dadurch wurde möglicherweise die soziale Monogamie befördert. Zugleich hatten Männer, die gut mit anderen Männern zusammenarbeiteten, mehr Erfolg bei der Jagd, bei welcher sie auch das Know-how für die Werkzeug- und Waffenherstellung miteinander teilten. Das wiederum löste einen weiteren Schub in der Entwicklung des Gehirns und der Sprache aus.
Ob höhere Dopaminspiegel im Gehirn das menschliche Sozialverhalten tatsächlich in der geschilderten Weise verändert haben, kann derzeit nur gemutmaßt werden. Denkbar wäre auch, dass die Entwicklung eines dopamindominierten Striatums lediglich der Nebeneffekt einer anderen Anpassung war. Neue Erkenntnisse erhoffen sich die US-Forscher von einer Untersuchung der Gehirne von Schimpansen und Bonobos. Während Schimpansen (pantroglodytes) häufig ein aggressives und unkooperatives Verhalten zeigen, sind Bonobos (panpaniscus) bekannt für ihre Friedfertigkeit sowie ihre Bereitschaft, Nahrung freiwillig mit Artgenossen zu teilen. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Unterschiede mit divergierenden Dopamin- und Acetylcholin-Spiegeln im Gehirn beider Schimpansenarten zusammenhängen. Gelänge ein solcher Nachweis, würde das die neue Theorie zweifellos stützen.
Was wissen wir heute sicher darüber, wie sich das menschliche Gehirn und Bewusstsein entwickelt hat und wie es sich weiterentwickelt? Was sind Bewusstseinsprozesse aus neurobiologischer Sicht? Was folgen daraus für psychologische und ethische Konsequenzen? Wieso streiten die Hirnforscherinnen und Hirnforscher darum, ob es einen freien Willen gibt oder nicht? Wie wird heutzutage an der Optimierung des Gehirns gearbeitet? Darf man das überhaupt, der Natur ins Handwerk pfuschen, oder muss man es, weil man es kann? Wie entstehen Emotionen in Kopf, von denen wir oft meinen, sie wären eine Sache des Herzens? Welche Fragen können Forscherinnen und Forscher heute schon beantworten und was ist offen? /5/
Lassen Sie uns gemeinsam auf eine Entdeckungsreise zum aktuellen Stand der Erkenntnisse über das menschliche Gehirn gehen.
Literatur:
/1/ Martin Koch: Sozialleben macht schlau. In: Neues Deutschland. 24./ 25. Februar 2018. Seite 25.
/2/ Thomas Junker: Die Evolution der Phantasie. Stuttgart 2013, insb. S. 139 ff.
/3/ Ebd.
/4/ Mary Ann Raghanti, M.E. Edler, A.R. Stephenson, E. Munger, B. Jacobs, P.R. Hof, C.C. Sherwood, R.L. Holloway, C.O. Lovejoy: A neurochemical hypothesis for the origin of hominids.Proceedings of the National Academy of Science U.S.A. (2018). www.pnas.org/cgi/doi/10.1073.pnas.1719666115
/5/ Franz M. Wuketits: Zivilisation in der Sackgasse. Plädoyer für eine artgerechte Menschenhaltung. Murnau 2012. S. 30 und 81 f.; vgl. a. Volker Mueller (Hg.): Das menschliche Gehirn. In: Schriftenreihe der Freien Akademie. Band 38. Berlin 2019; Renate Bauer (Hg.): Bewusstsein und Ich. Schriftenreihe der Freien Akademie. Band 29. Berlin 2010; Friedrich Engels: Antheil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. In: Ders.: Dialektik der Natur. In: MEGA² Bd. I/26. Berlin 1985. S. 88 – 99.

Der Mut zu denken
von Lamine Madani | 25.08.2025
Vor einigen Monaten sprach ich mit Dr. Volker Mueller über den „Mut zu denken“ – ein edles Konzept, welches nur von einem geistvollen Menschen stammen kann, der eine aufgeklärte Gesellschaft anstrebt. Ein Mensch, dessen Lebenslauf und Beitrag zur Gesellschaft und zur Freiheit des Denkens ich als Freidenker nur zu gerne zur Hälfte mein Eigen nennen würde. Mit seiner Erwähnung dieses Themas wollte Dr. Mueller nichts anderes, als die Fähigkeit fördern, kritisches Denken zu entwickeln – und den Weg für kommende Generationen zu ebnen, damit sie auf dem aufbauen können, was jene vor ihnen durch ihr Denken erreicht haben. Und vor allem, dass sie keine Angst davor haben, zu denken und sich aus der Komfortzone zu bewegen.
Diese Worte brachten mich über diese Zeit hinweg zum Nachdenken. Ich führte Debatten mit mir selbst über diese Idee und ihre möglichen Konsequenzen. Denn wir alle wissen, dass freies Denken je nach Land sehr unterschiedliche Folgen haben kann. Es erinnerte mich an meine gesamte Reiseodyssee – von meinem Heimatland bis zu meinem heutigen Lebensmittelpunkt hier in Deutschland – und ließ mich besonders über den Preis nachdenken, den ich für meinen „Mut zu denken“ bezahlt habe. Und ob dieser Mut überhaupt den Preis wert ist?
Meine Auseinandersetzung mit diesem Thema lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen: Der erste in meinem Heimatland, der zweite hier in Deutschland. Der erste Teil hat mich am stärksten geprägt, denn ich spürte den Verlust und den Schaden besonders intensiv, den ich allein dadurch erlitt, dass ich es wagte, zu denken und meine Gedanken zu äußern. In diesem ersten Abschnitt lernte ich den Schmerz kennen, der mit dem Mut zum Denken einhergeht. Plötzlich steht man allein da – gegen falsche Ideen, gegen eine Indoktrination, der man seit dem ersten Tag seines Lebens ausgesetzt war. Schlaflose Nächte voller innerer Zerrissenheit und dem Gefühl, nicht mehr in eine Gesellschaft zu passen, deren Denkweise nur eine Richtung zulässt. Dann kam die Zeit, in der ich meine Flügel ausbreitete, befreit aus einem Gefängnis von Ideen. Doch die Konfrontation begann jetzt nicht mehr mit mir selbst, sondern mit der Welt. Ja, der Mut zu denken führt auch dazu, sich mit anderen auseinanderzusetzen. Und wieder begann der Verlust – diesmal begleitet von Tagen der Angst aufgrund von Drohungen jener, die einem den Kopf abschlagen wollen, um ihr Ticket ins Paradies zu lösen.
Ich weiß, viele empfinden aus tiefstem Herzen Mitgefühl, wenn sie solche Geschichten hören. Doch nur wenige haben so etwas selbst erlebt. Und noch weniger saßen an einem Freitagmittag zu Hause beim Kaffee, als der Imam der Nachbarmoschee hunderten Zuhörern predigte, sie sollen den Ungläubigen im Viertel finden – und ihm zeigen, was Gott von seinen Gläubigen verlangt. Ich rannte einfach aus dem Haus, ohne meiner Familie etwas zu erklären, und versteckte mich tagelang bei einem Cousin. Der Albtraum war die unbeantwortete Frage: Werde ich jemals wieder sicher in meinem Haus sein? Und wenn ich fernbleibe, wie soll ich meiner Familie erklären, warum ich wortlos gegangen bin?
Nach vielen weiteren Ereignissen und Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft, der Polizei und dem algerischen Staat hatte ich das „Glück“, ein Visum zu bekommen und somit mit dem Leben zu entkommen. Ich erhielt eine neue Chance in ein „freies Land“ zu reisen und dort studieren zu können, ein Land, in dem ich endlich frei denken und sprechen darf und den „Mut zu denken“ ausleben kann. Dabei war es doch genau dieser Mut, der mich das Liebste gekostet hat: meine Familie und meine Heimat.
Teil zwei meiner Reise, die Phase in Deutschland, begann mit einem Moment, den ich nie vergesse werde: Mein erster Drink mitten in Berlin, auf der Straße Unter den Linden. Das Gefühl ein Teil Deutschlands zu sein mit Blick auf das Brandenburger Tor war unglaublich. Ich stellte mir vor, ein wenig wie Thomas Mann selbst zu sein, wie in seinem Roman. Der Verlust war groß, der Schmerz größer, doch dieser Moment fühlte sich wie eine wohlverdiente Entschädigung an. Endlich konnte ich frei atmen, endlich musste ich meine Worte nicht mehr herunterschlucken, denn hier durfte man denken und sprechen. Ein paar Monate später jedoch wurde mir klar, wie falsch dieses Gefühl war. Ich möchte gar nicht auf meine gesamte entmenschlichende Erfahrung hier eingehen – wie ich meines Menschseins beraubt wurde, reduziert auf einen Aktenstapel, über den irgendein Büroangestellter willkürlich entscheiden konnte. Doch es stellte sich heraus, dass auch in dieser Oase der Freiheit größte Vorsicht geboten war. Was man sagt, was man schreibt, man muss seine Gedanken und Worte mehr zügeln als je zuvor.
Es gibt in Deutschland gefühlt mehr Tabus als in meiner alten Heimat. Auch hier gilt: „Hab keine Angst vor dem freien Denken, aber fürchte die Konsequenzen deiner Worte.“ Es gibt für mich unantastbare Gruppen und politische rote Linien, über die ich nichts sagen darf. Dazu zählen auch doppelte Standards, bei deren Kritik die Strafen hart ausfallen.
Nichts schmerzt mich als Humanist mehr, als das Leiden von Menschen in anderen Regionen der Welt zu sehen und dennoch wage ich es nicht, ein Wort darüber zu verlieren. Ich fürchte mich, selbst auf Facebook einen Kommentar zu hinterlassen, ein Video zu liken oder nicht zu liken, denn das allein könnte mich den Aufenthaltsstatus kosten, unter dem Vorwurf, gegen irgendetwas zu sein oder Hass zu verbreiten. Besonders als nordafrikanischer Ausländer ist mein häufigstes „Verbrechen“ in den Augen anderer, dass wir nicht integriert sind und wahrscheinlich nie sein werden. Ein vorgefertigtes Urteil, ohne Rücksicht darauf, was wir tatsächlich sind.
Wieder einmal scheint der „Mut zu denken“ und zu sprechen mich in eine neue Phase des Widerstandes zu führen – gegen neue Kräfte, gegen die ich schon einmal verloren habe. Somit muss ich leider eingestehen: Nein, ich bin nicht mehr mutig. Den Kampf, den ich einst geführt habe, bin ich nicht mehr bereit oder in der Lage, erneut zu führen. Dass ich seit Jahren nicht einmal mehr zwei Zeilen auf Facebook schreibe, sagt genug darüber aus, wie groß meine Angst ist. Vielleicht fehlt mir nicht der „Mut zu denken“ – aber der Mut, mein Denken in Worte zu fassen. Ich bin nicht Voltaire oder Montesquieu, ich wollte das auch nie sein. Besonders dann nicht, wenn ich sehe, was ich geopfert habe und mit dem vergleiche, was ich in meiner Gesellschaft bewegen konnte. Nichts.
Lieber Dr. Mueller, Ihr freier Geist ist inspirierend und Ihr Humanismus gibt Hoffnung – auch mir. Aber in meiner Wahrnehmung starten wir aus unterschiedlichen Ausgangspositionen: Wenn ein deutscher Staatsbürger kritisiert, dass irgendwo auf der Welt Kinder durch ein geplantes Hungerprogramm eines anderen Staates sterben, wird ihnen dadurch nicht die Staatsbürgerschaft aberkannt. Wenn ich dies jedoch tue, verliere ich mein Zuhause hier – genauso, wie ich mein erstes Zuhause verlor. Und diesen Preis kann ich kein zweites Mal bezahlen.
Ich bin ein Freidenker und werde nie aufhören zu denken. Ich werde allen helfen, die meine Hilfe brauchen, innerhalb des Rahmens, der mir zusteht, denn am Ende des Tages wünsche ich mir auch – wie alle anderen – ein Leben. Doch es scheint, dass der Preis, den ich als Humanist dafür zahlen muss, darin besteht, seine Worte zu verschlucken, um das Minimum eines „erlaubten“ Humanismus zu leben, welches einem zugestanden wird.

Miteinander sprechen bleibt wichtig: Religionskritik im 21. Jahrhundert
von Ortrun Lenz | 12.08.2025
Religionen haben für viele Menschen gewiss ihre Daseinsberechtigung. Sie können demjenigen, der an ihre Inhalte glaubt, Trost und Halt geben. Allerdings dienen sie auch immer noch als Machtinstrument. Im 21. Jahrhundert hat sich jedoch vieles verändert. Religiöse Autoritäten verlieren an Einfluss, gleichzeitig tauchen neue Formen des Irrationalismus auf. Hat die Religionskritik sich auch verändert? Ist sie noch sinnvoll für den säkularen Humanismus?
Die klassische Religionskritik: Vernunft gegen Offenbarung
Bekanntermaßen stellten die Philosophen der Aufklärung die Religion infrage. Dies geschah im Namen der Vernunft und der fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse. Spinoza, Diderot, Voltaire, Kant und viele andere wollten niemandem den Glauben verbieten, sondern zeigen, wo der Glaube an höhere Mächte seine Grenzen hat. Sie demonstrierten außerdem, wo religiöse Institutionen zuviel politische Macht beanspruchten. In den Denkern der Aufklärung regte sich Widerstand, wo Religionen Wissenschaft, Sexualität oder individuelle Freiheit unterdrückten.
Im 19. und 20. Jahrhundert spitzten sich diese Fragen zu: Feuerbach erklärte Gott zur Projektion des Menschen, Nietzsche diagnostizierte den „Tod Gottes“, Freud interpretierte Religion als kollektive Neurose. Der Atheismus wurde zur intellektuellen Option, und manchmal zur moralischen Notwendigkeit.
Ist Religion deshalb inzwischen verschwunden? Nicht wirklich. Sie ist zwar längst nicht mehr allmächtig, existiert jedoch weiterhin. Anders als früher, aber sie lebt.
Religion im Wandel als neue Herausforderung
In vielen westlichen Gesellschaften spielt die Bindung an Religionsgemeinschaften inzwischen tatsächlich keine große Rolle mehr. Kirchenaustritte sind mittlerweile an der Tagesordnung und gesellschaftlich akzeptiert. Nicht mehr wie noch in den 50ern, als jede/r Abtrünnige in der dörflichen Kirchengemeinde ein Ereignis war, das der Pfarrer von der Kanzel herunter den treuen Kirchenmitgliedern mit missbilligender Mine verkündete, worüber dann alle empört tuschelten. Manche waren auch ein wenig neidisch, dass der- oder diejenige sich getraut hatte, was sie selbst nicht wagten: sich von der Kirche zu lösen.
Oft gibt es regelrechte Austrittswellen, beispielsweise nach Missbrauchs- und anderen Skandalen. Dogmen verlieren zwar an Einfluss, doch zugleich sind diverse Fundamentalismen nicht totzukriegen. Von christlichem Nationalismus in den USA bis zu islamistischem Fanatismus, von Esoterik-Trends bis zu pseudo-spirituellen Verschwörungserzählungen ist alles dabei.
Die Herausforderung ist also, Religion nicht pauschal abzulehnen, sondern genau hinzusehen und sich dann zur Wehr zu setzen, wenn sie gegen Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit eingesetzt wird. „Ist Religion gut oder schlecht?“ ist die falsche Frage. Es geht darum, was Menschen im Namen der Religion tun, was sie aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen tun dürfen oder eben gerade nicht.
Warum Religionskritik wichtig bleibt
Auch in säkularen Gesellschaften werden im Namen der Religion noch Privilegien gerechtfertigt: staatliche Subventionen, konfessioneller Religionsunterricht, kirchliches Arbeitsrecht oder der sog. Gotteslästerungsparagraph (§166 StGB). Wer diese Ausnahmen hinterfragt, steht schnell im Verdacht der „Intoleranz“ den Kirchen gegenüber. Dabei ist es erstens in der Regel umgekehrt: Atheisten werden in vielen gesellschaftlichen Bereichen als „nicht so wichtige gesellschaftliche Gruppierung“ übergangen (Rundfunkräte, Friedhofskapellen u.a.) und zweitens ist Kritik nicht gleich Intoleranz, sondern Teil einer offenen Gesellschaft. Ein säkularer Staat darf Religion weder verfolgen noch bevorzugen. Aber er darf sie hinterfragen – mit den gleichen Maßstäben wie andere Weltanschauungen auch. Vor allem aber sollten die Bürger eines säkularen Staates miteinander im Austausch bleiben, auch wenn sie unterschiedlichen Weltanschauungen oder Religionen angehören. Sich nicht voneinander abzugrenzen trotz unterschiedlicher Weltanschauungen, das ist die Kunst.
Moral ohne Gott: ein aufgeklärtes Menschenbild
Ein Lieblingsargument vieler Gläubiger lautet: Ohne Religion gibt es keine Moral. Dieses Argument ist allerdings längst widerlegt. Humanistische Ethik beruht auf Vernunft, Verantwortungsbewusstsein, Toleranz und Menschenwürde. Ist sie deshalb weniger wer als ein religiöses Dogma? Sicher nicht. Im Gegenteil.
Der säkulare Humanismus ist schließlich kein Ersatzglaube. Er ist eine Weltanschauung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, als selbstverantwortliches, endliches, fragendes Wesen. Humanismus funktioniert ohne Heilslehre. Er setzt die Bereitschaft zum Denken, Zweifeln und ethischen Handeln voraus.
Religionskritik als Angebot zum Dialog
Gute Religionskritik ist kein feindlicher Angriff. Sie will zum Nachdenken, Weiterdenken und Diskutieren ermuntern. Sie lädt ein, Widersprüche aufzuzeigen, Unlogik zu erkennen, Machtverfilzung zwischen Staat und Kirche zu erkennen. Religionskritik sollte nicht höhnisch oder verletzend sein, aber klar in ihren Aussagen. Eine Gesellschaft, in der man keine religiösen Überzeugungen hinterfragen darf, ist keine freie Gesellschaft.
Dabei gilt: Menschen sind zu respektieren – Ideen dürfen kritisiert werden. Zwischen diesen beiden liegt die Freiheit des Denkens. Religionskritik kann heute immer noch Machtverhältnisse aufdecken, religiöse Wahrheiten hinterfragen und zur Wahrung eines weltanschaulich neutralen Staates beitragen.
Fazit: Kritik ist kein Angriff, sondern Teil der Freiheit
Wenn Humanisten Religion kritisieren, tun sie das nicht aus Hass, sondern aus Verantwortungsgefühl. Aus Sorge um Selbstbestimmung, um wissenschaftliche Integrität, um soziale Gerechtigkeit. Religionskritik des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr nur Kampf gegen Dogmen, sondern auch Verteidigung gegen Rückfälle ins Irrationale, ins Autoritäre, ins Ausgrenzende.
Der säkulare Humanismus bleibt dabei klar: Kein Mensch ist besser, weil er glaubt. Und kein Mensch ist schlechter, weil er es nicht tut. Ob man religiöse Feste begeht oder eine säkulare Feierkultur pflegt, spielt keine Rolle. Was zählt, ist, wie wir miteinander umgehen – mit oder ohne Gott. Wir dürfen nicht aufhören, miteinander zu sprechen, ganz gleich woran wir glauben oder was uns wichtig ist. Es gibt immer etwas, das Menschen verbindet, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint.
Literatur:
Anton Grabner-Haider: „Die verhagelten Kirchen – Der Wandel des religiösen Bewusstseins“, Neu-Isenburg: ALV 2025.
Grabner-Haider/Mynarek/Satter: „Das andere Christentum – Über eine neue Vielfalt der Religiosität“, Neu-Isenburg: ALV 2020.
Freimut Hauk: „Religion ohne Gott – oder Transzendenz in der Immanenz“, Neu-Isenburg: ALV 2017.
Christian Casutt: „Mut zur Glaubensfreiheit – Eine Anleitung in fünf Schritten“, Neu-Isenburg: ALV 2023.

Gerechtigkeit
von Dr. Volker Mueller | 29.07.2025
Es gilt als Errungenschaft der Französischen Revolution, dass persönliche Freiheit ein Menschenrecht ist und die zu ihrer Realisierung nötige Gleichberechtigung durch Brüderlichkeit bzw. Solidarverhalten und durch Rechtsstaatlichkeit gestützt werden muss, dass zur Gerechtigkeit also immer auch ein gewisses Maß an Gleichheit gehört. Bis heute aber ist dies umstritten. Rechtspositivisten in der Tradition von Thomas Hobbes meinen, Gesetze könnten jeden beliebigen Inhalt haben und diesbezügliche Entscheidungen seien politischer Natur. Wirtschaftsliberale fordern unter Berufung auf die Gesetze des freien Marktes den „Nachtwächterstaat“, der sich auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung beschränkt. Marxisten treten zwar für die Gewährleistung der materiellen Lebensbedingungen jedes Einzelnen ein, sehen darin aber keine Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern eine Bedingung der Aufhebung von Klassengegensätzen.
Gerechtigkeit galt und gilt auch als individuelle Tugend. Philosophenkönige sollten nach Platon - von der Idee des Guten geleitet - gerecht regieren; und auch nach Aristoteles sollte am besten eine gebildete kluge Aristokratie im Staat die Gesetze geben. Gleichzeitig aber findet man schon bei ihm die Gedanken einer Begrenzung der Macht der Regierung und einer Ausbalancierung der Interessen der verschiedenen Schichten und Gruppen im Staat. Berühmt ist heute die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika für die in ihr institutionalisierten Checks und Balances. Das materielle Auskommen aber ist dieser Verfassung nach ebenso Sache des Einzelnen wie sein Glück. Bestenfalls die ihn einschließenden natürlichen Lebensgemeinschaften wie seine Familie oder seine Gemeinde könnten nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit verpflichtet sein, ihm zu helfen.
In der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts finden wir vielfältige Debatten - gerade bei Enzyklopädisten - über Gerechtigkeit und Recht, die die Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität philosophisch, kulturell und politisch vorbereiten. Denis Diderot schreibt 1763 in seinen „Kontroversen mit einem Theologen“, dass Gerechtigkeit die „getreue Einhaltung der getroffenen Vereinbarungen (bedeutet). Die Gerechtigkeit kann nicht in diesen oder jenen bestimmten Handlungen bestehen, da die Art von Handlungen, die man gerecht nennt, von Land zu Land wechselt, da also das, was in dem einen gerecht, in dem anderen ungerecht ist. Gerechtigkeit kann also nichts anderes bedeuten als Befolgung der Gesetze.“ /1/ Und 1773/1774 betont er in der „Fortlaufenden Widerlegung von Helvetius‘ Werk ‚Vom Menschen‘“, dass uns Gesetze keine Begriffe der Gerechtigkeit vermitteln, sondern sie voraussetzen. /2/ Im weiteren führt Diderot aus, dass die ersten Gesetze aus dem „gemeinsamen Interesse aller, nicht aber aus einer Idee von der Gerechtigkeit“ hervorgegangen sind. Wie aber solle dieses Interesse, so fragt Diderot, zur Übereinstimmung der Einzelwillen geführt haben? Gerechtigkeit führe zu einem zu erkennenden gegenseitigen Verhältnis, miteinander gerecht zu sein, worüber es sodann zu Vereinbarungen kommen solle. /3/
Die Idee des Sozialstaates, der dem Einzelnen das Existenzminimum garantieren soll, ist relativ neu. Auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist das Recht darauf nicht ausdrücklich formuliert, sondern ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus der staatlichen Pflicht zum Schutz der Menschenwürde nach Artikel 1 GG.
Die Shell Jugendstudie 2024 weist darauf hin, dass sich junge Menschen in Deutschland, in Ost und West - bei aller Pragmatik und einem gewissen Optimismus - von Gerechtigkeit, vor allem von sozialer Ungerechtigkeit betroffen fühlen. Ungerechtigkeit gehöre zu den 6 Lebensbereichen, die ihnen am meisten Angst machen. /4/
Hinzugekommen ist in den letzten Jahren die Aufarbeitung kulturgeschichtlich tradierter Formen der Diskriminierung, nämlich das Streben nach geschlechtlicher Emanzipation und Selbstbestimmung, nach Respektierung der kulturellen und damit auch sprachlichen Eigenarten, der sozialen Herkunft, der individuellen Leistungsfähigkeit und des Bildungsstandes. Globale Entwicklungen in der Gegenwart führen zu neuen Anforderungen an die Politik und den Staat, aber auch zu einer neuen Individualethik. Zur Beachtung der Ansprüche auf Gleichbehandlung und Gleichstellung und zu einem gerechteren Verhalten sind wir alle aufgefordert. Führen sie jedoch zu Gerechtigkeit im Zusammenleben der Menschen? Die Unübersichtlichkeit der Anforderungen hat dem ethischen Diskurs eine unbekannte Schärfe gegeben und teils zu einem seinerseits diskriminierenden Moralisieren geführt. Befinden wir uns in einem Aufbruch zwischen Moral und Diskriminierung? /5/
Was ist gerecht und was ungerecht? Was kann der Einzelne in emanzipatorischer Absicht legitim von der Gesellschaft fordern, und was davon lässt sich eindeutig formulieren und politisch durchsetzen? Was ist illusorisch? Inwieweit ist der Einzelne zum Entgegenkommen und damit auch zum Interessensverzicht verpflichtet? Wann ist es angezeigt, Erfolg und Glück in den Händen des Betroffenen zu lassen und von Regelungen oder Konventionen Abstand zu nehmen?
Daseins- und Wertefragen unseres menschlichen Miteinanders in Freiheit stehen im Vordergrund.
Die Freie Akademie hat zu dieser Thematik 2025 ihre wissenschaftliche Jahrestagung gestaltet. Im Band 44 der Schriftenreihe der Freien Akademie werden die Ergebnisse publiziert werden.
Literatur:
/1/ Denis Diderot: Kontroversen mit einem Theologen. In: Ders.: Philosophische Schriften. Band 1. Berlin 1961. S. 493.
/2/ Denis Diderot: Fortlaufende Widerlegung von Helvetius‘ Werk „Vom Menschen“. In: Ders.: Philosophische Schriften. Band 2. Berlin 1961. S. 88.
/3/ Ebd. S. 130.
/4/ Shell Deutschland (Hg.): Jugend 2024. Pragmatisch zwischen Verdrossenheit und gelebter Vielfalt. Weinheim 2024. S. 49.
/5/ Otfried Höffe: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. München 2021.

Generalversammlung der Humanists International 2025 in Luxemburg
Verbale und nonverbale Kommunikation als Stimmungsbarometer?
von Silvana Uhlrich-Knoll | 16.07.2025
Viele Momente der Kommunikation haben in den letzten Wochen im DFW stattgefunden. Sei es auf der Tagung der Freien Akademie Ende Mai, sei es beim Unitariertag im Juni oder bei der Generalversammlung der Humanists International Anfang Juli in Luxemburg. Hier treffen sich viele, die sich vorher nicht kannten, die aber eines verbindet – sie engagieren sich für das Miteinander, für die Demokratie und die Gleichberechtigung aller Menschen auf unserer Erde.
Dennoch bedeutet dies nicht, sich immer einig zu sein. Menschen unterschiedlicher Couleur treffen hier das ein oder andere Mal aufeinander und tauschen sich über ein spezielles Thema aus. Sei es Philosophie oder Naturwissenschaft, sei es Politik oder Vereinsstruktur. Vielleicht wird im Sinne einer Debattenkultur miteinander diskutiert und kritisch gestritten, aber ganz ohne persönliche Zwietracht oder Argwohn zu streuen. In einem Gespräch mit fremden Menschen können wir vor allem neue Perspektiven und Sichtweisen kennenlernen. Wir können unsere Kommunikationsfähigkeiten verbessern, wir lernen, zuzuhören und uns wortgewandt auszudrücken.
Es ist eine tolle Gelegenheit, den eigenen Horizont zu erweitern und mehr über andere Kulturen, Meinungen und Lebensweisen zu erfahren, diese wertzuschätzen und zu akzeptieren. Ich würde mir wünschen, dass wir weitaus öfters diesen Versuch starten, uns mit fremden Menschen kommunikativ auseinanderzusetzen, als über sie negativ zu reden oder sie einem Stereotyp zuzuordnen.
Natürlich gibt es auch Herausforderungen, die durch Sprachbarrieren und unterschiedliche Gewohnheiten entstehen und zu Missverständnissen führen können. Wichtig ist es jedoch, sich auf das Gemeinsame zu konzentrieren. Solche Begegnungen fördern nicht nur das persönliche Wachstum, sondern tragen auch dazu bei, Vorurteile abzubauen und eine globalere, friedlichere Gemeinschaft zu schaffen.
Es tut gut, Teil der Vielfalt, Teil des großen bunten Treibens da draußen zu sein. Es tut gut, euch da draußen zu kennen, euch zu treffen und mit euch zu kommunizieren. Danke für jeden Austausch auf Augenhöhe.


Die Verteidigung theologischer Rechte mit Waffen
2025 jähren sich das Ende des Bauernkriegs und der Todestag von Thomas Müntzer zum 500. Mal
von Ortrun Lenz | 30.06.2025
Geschichte ist nicht nur das Erinnern an Vergangenes, sondern auch eine Auseinandersetzung mit Fragen, die bis in unsere Gegenwart reichen. Besonders in Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Umwälzungen werden Grundkonflikte sichtbar, die auch heute noch relevant sind – etwa zwischen Reform und Revolution, zwischen Macht und Gerechtigkeit.
Eine solche Zeit war der Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit, etwa zwischen 1476 und 1525: eine Epoche massiver Spannungen, sozialer Umbrüche und religiöser Erneuerungen. In dieser Zeit erhoben sich nicht nur Bauern gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sondern auch städtische Bürger und Teile des verarmten Adels begannen, die alte Ordnung in Frage zu stellen. Die Reformation erschütterte die Autorität der Kirche, der weltliche Adel rang mit dem geistlichen um Einfluss, und in vielen Regionen formierten sich neue Machtverhältnisse.
Während Martin Luther die Kirche reformieren wollte, ohne die bestehende gesellschaftliche Hierarchie grundsätzlich infrage zu stellen, ging Thomas Müntzer einen anderen, radikaleren Weg.
Thomas Müntzer (geb. um 1489 in Stolberg/Harz; † 27. Mai 1525 bei Mühlhausen/Thüringen) war ein Theologe, Reformator, Drucker und wurde zum Revolutionär in der Zeit des Bauernkrieges. Müntzer war nicht nur ein früher Mitstreiter Luthers, sondern bald sein entschiedener Gegner – politisch wie theologisch. Wo Luther zur Ordnung aufrief, predigte Müntzer den Umsturz; wo Luther die Fürsten beschwichtigte, rief Müntzer die Unterdrückten zum Kampf auf. Für ihn war die religiöse Erneuerung untrennbar mit sozialer Gerechtigkeit verbunden. Sein Wirken gipfelte im Deutschen Bauernkrieg, in dem sich der aufgestaute Unmut breiter Bevölkerungsschichten in einem offenen Aufstand entlud.
Luther und Müntzer: zwei Weltsichten
Ich will versuchen, die gegnerischen Haltungen von Müntzer und Luther darzustellen und zwar in der Zeit kurz vor und während des Bauernkriegs. Es geht also hauptsächlich um die Jahre 1524 und 1525.
Thomas Müntzer war der Auffassung, dass die sogenannte „Heimsuchung Gottes“, d. h. die Erfüllung des Volkes mit dem Geist Christi, die Voraussetzung für die äußere Umgestaltung des Lebens war. Und diese Erfüllung mit dem Geist Christi äußerte sich bei ihm praktisch in dem Verzicht auf jegliches egoistische Streben. Der erreichte Grad der inneren Läuterung eines Menschen zeigte sich für Müntzer daran, wie sehr jemand dazu bereit war, Hab und Gut und sogar das eigene Leben zu wagen. „Deshalb rief er dazu auf, notfalls alles zu opfern – ‚allein behalt euer gewyssen frey und ledig und last euch dasselbige mit tyrannischem gebot nit vorstricken’“.
Müntzer wies auch darauf hin, dass Gott von den Menschen fordern würde, dass sie Gut und Leben wagten. Diejenigen, die nicht bereit wären, Opfer zu bringen, würden die Güter, die sie vorher für Gott nicht hatten wagen wollen, später sowieso genommen werden. Aus diesen Äußerungen Müntzers lässt sich deuten, dass er erkannt hatte, dass nur in einer Gesellschaftsordnung ohne Klassen und ohne soziale Unterschiede zwischen den Menschen Gerechtigkeit herrschen kann; und zwar Gerechtigkeit für alle und auch Wohlstand für alle. Er erkannte aber gleichzeitig, dass die Konstituierung einer solchen Gesellschaftsordnung von den Menschen ganzen Einsatz und ungeheure Opfer fordern würde.
Wichtige waren zwei Predigten Müntzers, zum einen die Fürstenpredigt am 13. Juli 1524 (vor einem kleinen Kreis: Herzog und Kurprinz Johann u. a. ) und die Bundespredigt am 24. Juli 1524. Noch in der Fürstenpredigt versucht Müntzer, die sächsischen Landesväter für seinen Revolutionsbund zu gewinnen, indem er mit bittenden, werbenden Worten auf sie einredet: „Darum, ihr allerteuersten, liebsten Regenten, lernt Euer Urteil (Erkenntnis) recht aus dem Munde Gottes und laßt Euch (durch) eure heuchlerischen Pfaffen nicht verführen mit gedichteter Geduld und Güte aufhalten.“ Und weiter: „Sollt ihr nun rechte Fürsten sein, so müsst ihr das Regiment bei der Wurzel anheben und wie Christus befohlen hat. Treibt seine Feinde von den Auserwählten, denn ihr seid die Mittler dazu. Liebe, gebt uns keine schale Fratzen vor, daß die Kraft Gottes es tun soll ohne euer Zutun des Schwertes, es möchte euch sonst in der Scheide verrosten.“ So klang es in der Fürstenpredigt.
In der Bundespredigt, wenige Tage später, schlägt er schon andere Töne an. An die Stelle der bittenden Worte kamen Kritik, Vorwürfe und offener Tadel. „Ist es doch offenbarlich am Tage, daß die gottlosen Regenten den Frieden des Landes selber aufheben, stocken und blochen (hart strafen) die Leute um des Evangeliums willen, und es schweigen unsere Fürsten dazu ganz und gar stille.“
Nachdem die Tyrannen im Sommer 1524 immer noch ohne Strafe weiterwüten konnten, änderte Müntzer seine Meinung dahingehend, daß das Volk nicht nur das Recht, sondern die Pflicht habe, das Schwert selbst zu ergreifen und es gegen die Gottlosen zu führen.
Das Volk soll zum Schwert greifen
Es entspricht der Vernunft und dem natürlichen Urteil der Menschen, dass niemandem Notwehr versagt werden darf. „Notwehr war für Müntzer nicht identisch mit Aufruhr, sondern im gegebenen Falle Notwehr gegen die Aufrührer wider Gott, ein Mittel, um den Willen Gottes auf friedlichem Wege durchzusetzen. Für den Aufstand des noch nicht geläuterten Volkes konnte sich Müntzer trotz der Ermahnungen seiner aus anderen Städten und Dörfern vertriebenen Anhänger nicht entscheiden. Aufstand um vergänglicher Ziele und Interessen willen schien ihm Frevel wider Gott zu sein, die Anfechtung, der·Einsatz von Gut und selbst des Lebens eine unentbehrliche Stufe auf dem Wege hin zur Umwälzung auch der äußeren Verhältnisse.“
Luther hatte dagegen ganz andere Normen für die Unterdrückten und Entrechteten. „Christliches Recht ist, sich nicht zu sträuben gegen das Unrecht, nicht zum Schwert zu greifen, sich nicht zu wehren, sich nicht zu rächen, sondern Leib und Gut dahinzugeben, daß es raube, wer da raubt – wir haben doch genug an unserem Herrn, der uns nicht verlassen wird, wie er verheißen hat. Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz ist der Christen Recht, das und gar nichts anders. ... Ein Christ läßt jeden rauben, nehmen, drücken, schinden, schaben, fressen und toben, wer nur will; denn er ist ein Märtyrer ...“
Luther empfiehlt also den Bauern, stillzuhalten und sich nicht zu wehren. Diese Haltung gründet er auf den Römerbrief 13, Kapitel 3 und 4, in dem die Obrigkeit als gottgewollt dargestellt wird. Die Fürsten und Herren sind für Luther demnach „Gottes Beamten und Diener seines Zornes, dem das Schwert gegen solche Buben befohlen ist“.
Für Müntzer war der Kampf gegen die Pfaffen immer mit dem allgemeinen revolutionären Kampf gegen die Obrigkeit verbunden. Er sah keinen Unterschied zwischen religiösen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Er hielt alles für „gottlos“, was auf egoistische Ziele beschränkt war; alles sollte von den Zielen des Allgemeinen ausgehen, das er „Gott“ nennt. Demnach musste auch alles „Gottlose“ durch die Gewalt der „Auserwählten“ unterdrückt werden. D. h. dass er bereit war, für seine theologische Überzeugung mit allen Mitteln zu kämpfen.
Luther wiederum sah die Radikalität Müntzers als gefährlich an. Besonders Müntzers Tätigkeit in Allstedt im Jahre 1524 machte ihm zu schaffen. Er schrieb an die sächsischen Fürsten und forderte Repressalien gegen Müntzer. Er erinnerte sie daran, dass er schon 1522 auf die gefährlichen Seiten der Müntzerschen Lehre hingewiesen habe, der die Reformation mit dem Schwert durchführen wolle. Weiter schrieb er, dass es Müntzer inzwischen nicht mehr nur um die Lehre ginge, sondern um eine Organisation, die sich „leypliche aufruhr“ gegen die weltliche Obrigkeit zum Ziel gesetzt habe. Und für diese Ziele wollte der „Teufel“ (wie Luther Müntzer inzwischen titulierte) den Pöbel für sich gewinnen.
Luthers Wut auf Müntzer wurde offenbar immer größer, denn im Bauernkrieg nannte er ihn schließlich den „Erzteufel, der zu Mühlhausen regiert und nichts denn Raub, Mord und Blutvergießen anrichtet.“ Luther selber hatte aber genauso Blutvergießen im Sinn, allerdings mit anderen Opfern als Müntzer. In seiner berühmten Schrift: „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ wird er sehr deutlich, was seine Meinung über die Auflehnung gegen die Obrigkeit betrifft: „So soll nun die Obrigkeit hier getrost weitergehen und mit gutem Gewissen dreinschlagen, solange sie eine Ader regen kann. Denn sie hat hier den Vorteil, daß die Bauern ein böses Gewissen und eine ungerechte Sache haben und jeder Bauer, der dabei erschlagen wird, mit Leib und Seele verloren und auf ewig des Teufels ist. ... Darum soll hier zuschlagen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer nur kann, und daran denken, daß es nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres geben kann als einen aufständischen Menschen, so wie man einen tollen Hund totschlagen muß.“
Charakterisierung der beiden Gegner
Auf der einen Seite stand Luther, für den die Obrigkeit gottgewollt war. Er bezog sich dabei auf den Römerbrief 13, und zwar auf die Verse 1 und 2. Er, auf den die Bauern zuerst ihre Hoffnungen gesetzt hatten, wandte sich gegen sie, indem er ihnen vorhielt, dass sie sich nicht gegen die Obrigkeit wehren dürften. Einerseits hatte er den Bauern also den Aufstand verboten und bezeichnete sie, als sie schon im Kampf waren, als „mörderische und räuberische Rotten“. Andererseits aber empfahl er den Herren genau das, was er den Bauern vorwarf, nämlich zu morden, schlagen, würgen, stechen usw. In der Schlacht von Frankenhausen wurden ja dann auch 5000 Bauern umgebracht und nur 600 gefangengenommen. Die Machthaber waren damit genau Luthers Rezept gefolgt.
Auf der anderen Seite stand Müntzer, der sich auf den gleichen Römerbrief 13 berief wie Luther. Nur stand für ihn die wichtigste Information zwei Verse weiter, nämlich in den Versen 3 und 4. Er interpretierte sie so, dass die Obrigkeit die Ketzer vernichten müsse, also vor allem Leute wie Luther. Müntzer wollte Bauern und Fürsten gemeinsam in einem christlichen Verbündnis sehen. Alle „Auserwählten“ sollten zusammen gegen die „Verdammten“ kämpfen. Er wollte aber keine Unterschiede machen zwischen Konfessionen oder Nationen; für ihn gab es nur Menschen unter Gott. „Auch kannte er keine Klassen, keine Titulaturen oder Rangstufen – er duldete nur Brüder.“
Für die Durchsetzung seiner religiösen Idee hat er letztendlich zu den Waffen gegriffen, da er keinen anderen Weg mehr sah, seine Forderungen durchzusetzen. Müntzer war also selber mit in die Schlacht gezogen, während Luther vom Schreibtisch aus seine Hetzreden schrieb und sich aus allem ansonsten heraushielt.
Luther muss sich aber trotz allem der Tragweite seines Handelns und Versagens bewusst gewesen sein. „Die Problematik, für die er von seinen theologischen Voraussetzungen aus keine menschlich vertretbare Lösung anzubieten hatte, belastete auf Jahre hin sein Gewissen.“ 1533 sagte er: „Prediger sind die allergrößten Totschläger. Denn sie ermahnen die Obrigkeit, daß sie entschlossen ihres Amtes walte und die Schädlinge bestrafe. Ich habe im Aufruhr alle Bauern erschlagen, all ihr Blut ist auf meinem Hals. Aber ich schiebe es auf unseren Herrgott; der hat mir befohlen, solches zu reden. ...“
Letzten Endes haben beide Haltungen zum Krieg geführt. Dass diese bewaffnete Auseinandersetzung für die Bauern so böse geendet hat, ist vielleicht auch ein Zufall gewesen. Ob dieses Gemetzel nicht hätte vermieden werden können und ob sich damals nicht vielleicht doch noch andere Wege hätten finden können, das lässt sich aus heutiger Sicht schwer beantworten. Thomas Müntzer steht damit exemplarisch für den revolutionären Geist einer Epoche, die an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit nicht nur die Kirche, sondern auch die Gesellschaft neu zu denken begann – mit Konsequenzen, die bis heute nachwirken.
Literatur:
Bensing, Manfred: Idee und Praxis des „Christlichen Verbündnisses“ bei Thomas Müntzer, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 14 (1955), S. 326
Herrmann, Horst: Ketzer in Deutschland, Köln 1978
Lilje, Hanns: Martin Luther, Reinbek bei Hamburg April 1965
Smirin, M. : Die Volksreformation des Thomas Müntzer und der große Bauernkrieg, verb . u. erg. Aufl. , Berlin 1956
Wehr, Gerhard: Thomas Müntzer, Reinbek bei Hamburg Mai 1972
Siegfried Bräumer und Günter Vogler: Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Gütersloh 2016.
Ulrich Bubenheimer und Dieter Fauth (Hg.): Religiöser Pluralismus und Deutungsmacht in der Reformationszeit. In: Schriftenreihe der Freien Akademie. Band 36. Berlin 2017.

Zur Notwendigkeit von Meinungsfreiheit
von Dr. Volker Mueller | 19.06.2025
Seit dem Renaissancehumanismus und spätestens seit der europäischen Aufklärung steht der Begriff der Freiheit im Zentrum politischer, menschenrechtlicher und philosophischer Debatten. Schon John Locke (1632 – 1704) hat die These vertreten, dass eine Regierung nur dann legitim ist, wenn sie das Naturrecht auf Freiheit gewährt und schützt. Liberté, Égalité, Fraternité - unter dieser Losung stand dann das Epochenereignis, die Französische Revolution von 1789. „Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten“, so hat 1762 Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) den bürgerlichen Impetus gegen Absolutismus und Aristokratie und für die Republik formuliert.
Freiheit wurde in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zunehmend als Befreiung von den feudalen und klerikalen Verhältnissen des Ancien Règimes verstanden. Die Freiheitsrechte als angeborene Rechte des Menschen wurden gegen Absolutismus, gegen Vorurteile und Abhängigkeiten formuliert und sollen das freie Bewusstsein freier Menschen fördern und schützen. In der „Encyclopédie“, Band 9 (1765), finden wir deren naturrechtliche Bestimmung: „Dieses Recht gibt die Natur allen Menschen, damit sie über ihre Personen und ihre Güter in der Weise verfügen, die ihrem Urteil nach ihrem Glück am meisten angemessen ist – allerdings mit der Einschränkung, daß sie dieses Recht in den Grenzen des Naturgesetzes anwenden und es nicht zum Schaden der anderen Menschen mißbrauchen.“
„Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Immanuel Kant (1724 – 1804) trifft diese Unterscheidung in dem Aufsatz, den er mit seinen berühmten Bestimmungen der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und der Mündigkeit als des Vermögens, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, einleitet. Was 1784 galt, gilt auch heute: Die Aufklärung ist nicht abgeschlossen, das Projekt ist unvollendet. Aufklärung vollzieht sich, wenn Kritik geübt wird. Kritik vollzieht sich als „freie und öffentliche Prüfung“, der sich weder Religionen noch Regierungen „entziehen“ können. Wahrheitsansprüche, die allein auf Autorität oder Macht gegründet sind, gelten nicht.
Bei den Freiheitsrechten der Menschen hat sich die Frage nach der Meinungsfreiheit besonders herausgebildet. An Versuchen, autoritäre Wahrheitsansprüche wieder zu etablieren, fehlt es bekanntlich in unserer Gegenwart nicht. Von einem „Zeitalter der Kritik“ zu sprechen, fällt angesichts der Angriffe von Rechtspopulisten, Extremisten und Neofaschisten gegen eine „freie und öffentliche Prüfung“ schwer. Einschüchterungen bis hin zu Inhaftierungen von Journalisten weisen darauf hin, dass die Ausbildung des Vermögens, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, durch Fake-News und offene Lügen verhindert und die Freiheit der öffentlichen Diskussion wie auch der Kulturen, Religionen und Weltanschauungen und der Ideen- und Lebensvielfalt - auch durch staatliche Gewalt - gefährdet ist.
Das Projekt der Aufklärung ist nicht in dem harmlosen Sinn unvollendet, dass Kritik und Freiheit sich im Vollzug und in der Öffentlichkeit bewähren müssen, solange kritikwürdige Zustände herrschen. Das Projekt ist in dem Sinn unvollendet, als die Gegenaufklärung buchstäblich marschiert: Sie will den immerhin erreichten Stand kritischer Öffentlichkeit, freier Medien und politischer Freiheit nicht nur auf eine vorargumentative Propaganda zurückdrehen, sie will den erreichten Stand persönlicher und politischer Freiheiten zu autoritären und nationalistischen Herrschaftsverhältnissen zurückzwingen. Das Projekt ist unvollendet und … es ist gefährdet. Die Gegenaufklärung will die politische und soziale Freiheit in Frieden und Demokratie zerstören.
Die UNO-Deklaration der Menschenrechte (1948), die durch Eleanor Roosevelt (1884 –1962) präsentiert wurde, ist eine entscheidende Grundlage unseres Lebens. «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» - wie es in Artikel 1 der UNO-Menschenrechtserklärung heißt. Die Freiheitsrechte (ihre Durchsetzung und Bewahrung) sind notwenige Voraussetzung für die Entwicklung freier Menschen in einer freien Gesellschaft. Eleanor Roosevelt, US-amerikanische Delegierte bei den Vereinten Nationen betonte bei der Vorlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Freiheit ist für jedes menschliche Wesen ein großes Bedürfnis. Mit Freiheit geht Verantwortung einher. Für eine Person, die nicht gewillt ist, erwachsen zu werden, eine Person, die nicht bereit ist, ihr eigenes Gewicht zu tragen, ist dies eine beängstigende Aussicht.“
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Grundrechtecharta der Europäischen Union führen diese Freiheitsgarantien fort.
Besonderes Augenmerk legt der Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften e.V. auf die Meinungsfreiheit, wie auf die Geistes-, Gewissens-, Presse-, Kunst-, Wissenschafts- und Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Sie sind in unserer Gegenwart gefährdet. Und dabei sind nicht nur autokratische Regimes wie Russland, Saudi-Arabien, Ungarn oder die Türkei gemeint, sondern die ganze Welt. Eine robuste Demokratie mit lebendiger Meinungsfreiheit und ein freier Rechtsstaat setzen sowohl die individuellen Rechte der Menschen als auch die Autonomie demokratischer Organisationen vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen voraus.
Menschenrechte und vor allem die Meinungsfreiheit sind mit liberalen Traditionen verbunden. Wir sind uns des hohen Gutes der Freiheit des Menschen gewiss. Welche Gefährdungen des Erreichten erkennen wir? Wie kann ein aufgeklärter und demokratischer Standard gegen seine Gegner verteidigt und bewahrt werden? Eröffnen sich zurzeit Möglichkeiten der Erweiterung von Freiheitsrechten überhaupt? Ist Meinungsfreiheit ein Zustand oder ein fortlaufender Prozess? Hat sie Grenzen? Findet Freiheit nur in der Geschichte statt? Ist Freiheit seit dem Austritt des Menschen aus der unmittelbaren Naturabhängigkeit durch die Vernunftbegabung als Tatsache gegeben? Ist der freie Wille eine Illusion, die den universellen Determinismus der Naturgesetze verkennt und übersieht?
Meinungsfreiheit ist notwendig, um die Freiheit zu haben, frei zu leben.
Ausgewählte Literatur:
Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. Stuttgart 1986. S. 5.
Louis de Jaucourt: Natürliche Freiheit – Liberté naturelle. In: Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie. Leipzig 1984. S. 581 f.
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Was ist Aufklärung? Stuttgart 2002. S. 9 – 17.
Eleanor Roosevelt. Zitiert nach: https://www.deinemenschenrechte.de/voices-for-human-rights/eleanor-roosevelt.html (gelesen: 05.08.2023)
Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. München 2018.
Andreas Arndt: Freiheit. Köln 2019.
Volker Mueller (Hg.): Freiheit und Erkenntnis. Schriftenreihe der Freien Akademie. Band 40. Berlin 2022.
Volker Mueller (Hg.): Die Notwendigkeit von Freiheit. Schriftenreihe der Freien Akademie. Band 42. Berlin 2023.

Foto: Gordon Welters
Margot Friedländer: Ihr Gedenken ist ein Hoffnungsschimmer
Von Silvana Uhlrich-Knoll | 02.06.2025
Margot Friedländer war ein leuchtendes Beispiel für die Kraft der Versöhnung und des menschlichen Miteinanders. Ihre Lebensgeschichte, geprägt von unvorstellbarem Leid und Verlust während des Holocaust, ist nicht nur ein Zeugnis der Vergangenheit, sondern auch ein eindringlicher Appell an die Menschlichkeit. Trotz der schmerzlichen Erfahrungen, die sie gemacht hat, hat Margot nie den Glauben an die Versöhnung und den Dialog zwischen den Menschen verloren. In ihren öffentlichen Auftritten und Gesprächen strahlte sie eine bemerkenswerte Wärme und Empathie aus. Sie ermutigt uns, die Vergangenheit nicht zu vergessen, sondern aus ihr zu lernen, um eine bessere Zukunft zu gestalten. Margots Botschaft war klar und eindeutig: Versöhnung ist möglich, wenn wir bereit sind, zuzuhören, zu verstehen und Brücken zu bauen.
Sie zeigte uns, dass die Werte von Demokratie, Toleranz und Miteinander nicht nur abstrakte Konzepte sind, sondern lebendige Prinzipien, die in unserem täglichen Leben verwurzelt sein sollten. Diese Werte sind essenziell für das Funktionieren unserer Gesellschaft. Sie erinnern uns daran, dass wir in einer Gemeinschaft leben, in der jeder Einzelne zählt und in der wir gemeinsam Verantwortung tragen. Demokratie und Miteinander sind nicht nur Ideale, sondern praktische Leitlinien, die uns helfen, eine inklusive, gerechte und friedliche Welt zu gestalten. In Zeiten der Unsicherheit und des Wandels sind sie wichtiger denn je und sollten stets in unserem Handeln und Denken verankert sein.
Margot Friedländer erinnerte daran, dass es in der menschlichen Natur liegt, zu vergeben und zu heilen. Ihre unermüdliche Arbeit für die Aufklärung und den interkulturellen Dialog war ein leuchtendes Beispiel dafür, wie wir gemeinsam an einer friedlicheren und gerechteren Gesellschaft arbeiten können. In einer Welt, die oft von Spaltung und Konflikten geprägt ist, ist ihre Botschaft der Versöhnung und des Miteinanders wichtiger denn je.
Ihr Erbe inspiriert uns, weiter aktiv für eine Gesellschaft einzutreten, in der jeder Mensch in seiner Würde geachtet wird und in der wir gemeinsam an einer besseren Zukunft arbeiten. Das Gedenken an Margot und all jene, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben, ist nicht nur ein Rückblick auf die Vergangenheit, sondern ein Aufruf, die Lehren daraus in unser tägliches Handeln zu integrieren. In diesem Sinne ist ihr Gedenken tatsächlich ein Hoffnungsschimmer für kommende Generationen.